Der vergessene Kämpfer
Die ganze Straße ist zugeparkt. Auf der Wiese stehen sie schon. Und überall Absperrbänder. „Da habe ich ja ’was schönes angerichtet“, sagt Wolfgang Renner (59) und rangiert durch das Spalier der bunt beklebten Vereinsbusse.
„Der Start des Jugendrennens wird zeitnah erfolgen“, lärmt es vom Sprecherwagen über das Sportplatz-Gelände. Renner zieht am linken Hemdsärmel, um seine Armbanduhr freizulegen. „Jugend erst? Bin ich ja viel zu früh dran“, stellt er fest und schiebt den Ärmel faltenfrei zurück. Früher sei er eine halbe Stunde vor dem Rennen angereist, sagt er, frühestens, das habe gereicht. Nummer dran und Kaltstart.
„Ich wusste ja meist schon vorher, dass ich gewinne.“ Drei Jahrzehnte ist das her.
Drei Stunden sind es noch bis zum Start des Rennens „Hobby Senioren Ü 40“, wegen dem Renner gerade drei Autobahnstunden lang vom schwäbischen Magstadt ins rheinland-pfälzische Mehren gezuckelt ist. Das Navigationssystem hatte Probleme, das Örtchen auf der Festplatte zu orten. Der Mann, dem Deutschland das Mountainbike verdankt, ist mal wieder in Rennlaune. Letzte Woche hat er mit dem Rennrad auf Sizilien trainiert, den Körper in Form gebracht, die Beine in die Sonne gehalten. Von hinten, findet er, sehen die Waden sogar fast so sehnig aus wie damals. Sogar rasiert hat er sie gestern noch. Wie früher eben, als die Bundesbahn Sonderwagons ankoppeln musste, um die Fans an die Strecken zu karren, auf denen er fuhr. Wolfgang Renner war der Star der Radcrosser. Nun hätte die Dame im Anmeldebüro gerne fünfzehn Euro Startgebühr plus fünf Euro Pfand für die Lenkernummer, aber bitte passend. Sie hat nicht die blasseste Ahnung, wer da in der Bratwurstwolke vor ihr steht.
Als ihn seine Marketing-Abteilung unlängst ins Zentrum einer Werbekampagne rücken wollte, habe er sich anfangs mit Händen und Füßen gewehrt. Er sei eben anders als sein amerikanischer Promi-Kollege Gary Fisher, der seit Jahren von der Rolle des schrillen Bike-Pioniers lebt. Über zwei Millionen Internet-Einträge findet die Suchmaschine Google über Fisher, zu Renner gerade mal 42 000.
Renner beißt das Plastikventil seiner Wasserflasche auf und nuckelt noch ein paar Schlückchen. Dann ab zum Start, wo es nach getragenen Trikots und Muskelsalbe riecht, dieser einzigartigen Duftnote, die Renner selbst komponiert hat. Aus der Soundanlage schreit irgendeine Underground-Punkband ihren Unmut über das Leben in den Wald. Früher liefen Queen und die Stones, weiß Renner noch. Privat hört er nur Klassik. Dann ruft der Moderator „Start“. Videokameras zoomen dem Feld hinterher.
Die Geschichte des Bike-Pioniers Wolfgang Renner begann pragmatisch – auf einem zwanzig Kilo schweren „Vaterland-Rad“ Anfang der Sechziger. 36 Mark kostete die Monatskarte für den Zug nach Stuttgart, wo sich Renner nach der Volksschule zum Elektromechaniker ausbilden ließ. Magere 41,50 Mark betrug der Monatslohn. Getrunken wurde nur Leitungswasser.
„Das war die härteste Zeit meines Lebens“, erinnert sich Renner. Geld war in der Familie immer knapp. Der Vater hatte im Krieg ein Bein verloren und arbeitete als Schneider. Die Mutter half ihm. Also fuhr Renner täglich siebzig Kilometer mit dem Vaterland-Rad, um die 36 Mark für die Fahrkarte zu sparen. Bei jedem Wetter. Zweimal in der Woche stieg er zudem zusammen mit Zwillingsbruder Jürgen aufs Rad. Kunstradfahren war ihre große, vom Vater geerbte Leidenschaft. 1964 und 1965 wurden sie Deutscher Meister. Doch das Pendeln zwischen Wohnung und Ausbildungsstätte machte Renner bald mehr Spaß, als sich bei akrobatischen Zweirad-Kunststücken zu verrenken.
„An meinem achtzehnten Geburtstag fuhr ich heimlich zu einem Radrennen nach Bad Rantringshausen. Mein Vater erfuhr von meinem zweiten Platz aus der Zeitung. Das führte zu einem richtigen Bruch in der Familie. Bei uns drehte sich ja alles ums Kunstradfahren.“ Renner zog aus und mit den Radkollegen durch ganz Europa. Die Karriere lief glänzend. Bis zu jenem Mittwoch im Mai 1971. Mit 200 „Sachen“ donnerte Renner mit seinem neuen Porsche über die Landstraße bei Stuttgart, landete erst im Straßengraben und dann in der Notaufnahme. Beckenbruch – Glück gehabt.
Trotzdem: „Noch heute habe ich Alpträume vom Unfall“, sagt Renner. Die Sportkarriere versandete in endlosen Physiotherapien. Zwar schaffte es der Publikumsliebling noch einmal aufs Podest einer Cross-WM. Doch die Hüfte schmerzte höllisch bei Belastung. Das Ende wurde ein Anfang. „Noch vier Runden“, schreit der Moderator gegen die Punk-CD an. Auf der Abfahrt hat Renner zwar ein paar Plätze gut gemacht. Doch die langen Anstiege haben die Gesichtsfarbe ins pastellartige weichen lassen. Andere würden einen Tritt rausnehmen. Nicht Renner. Der fetzt mit den Zähnen einen Tüte Powergel auf, drückt den Inhalt in den Rachen und schaltet schon wieder einen Gang runter. Wie früher.
Vielleicht ist es diese schwäbische Sturheit, die Wolfgang Renner zu einem der wichtigsten Köpfe der Bike-Geschichte machte. Er griff zu, als ihm vor dreißig Jahren der Vertrieb von japanischen Centurion-Rahmen angeboten wurde. Er wagte den Schritt zum Hersteller, nachdem er im Herbst 1980 in Amerika zum ersten Mal ein Mountainbike gesehen hatte. In Europa gab es ja nichts. Zwei Jahre später brachte er das erste wettkampftaugliche Mountainbike auf den deutschen Markt – das dunkelgrün lackierte „Country“ mit zwölf Gängen und wuchtigen Motocross-Bremshebeln. Zweihundert Stück kamen in den Handel. Eines davon steht im Bürogang der Centurion-Zentrale. 1991 investierte Renner sein gesamtes Vermögen, um sich die Rechte am Namen Centurion zu sichern. Und gab nicht auf, als ihm das unausgereifte „Thermoshape“-Projekt fast die Existenz kostete.
Drei Millionen Mark hatte Renner bereits in die neuartige Carbon-Fertigung gesteckt, als die ersten Rahmen kollabierten. Er war gerade in Mailand, als ihn der Anruf seiner PR-Abteilung erreichte. Renner ließ das Projekt noch in dieser Minute sterben. Ein rotes Thermoshape-Bike hat er sich aufgehoben. Es hängt zusammen mit anderen Problemfällen im Heizungskeller der Firma. Renner nennt den Raum Horrorkabinett.
Sechzig Mitarbeiter beschäftigt sein Unternehmen inzwischen. Mindestens zwölf Stunden des Tages verbringt Renner im riesigen Firmenzweckbau im Industriegebiet von Magstadt. Oft auch am Wochenende. Nebenbei gibt er Manager-Seminare.
„Nichts ist gefährlicher, als keine Entscheidung zu treffen“, bläut er den Führungskräften dann ein. Oder: „Willst Du Erfolg haben, mach’ es simpel und easy.“ Er lebt für die Firma und nach Feierabend in einem bescheidenen Einfamilienhaus im Bausparer-Format. Seine Geschäftsbriefe unterzeichnet er mit einem Pelikano-Füller für 10,95 Euro. Zum dreißigjährigen Firmenjubiläum will er im Hotel „Vier Jahreszeiten“ am Titisee eine Diashow veranstalten. Im kleinen Rahmen, vor ausgewählten Händlern. Das muss reichen. Er selbst hat sich zum Anlass lediglich einen neuen Glasschreibtisch geleistet, von dem er täglich die Fingertapsen wegrubbeln lässt. Das Geschäft läuft. Doch im Herzen ist Renner immer Biker geblieben. Abendfüllend könnte er Geschichten erzählen. Von seinen Bike-Reisen, Expeditionen, Erlebnissen. Etwa die der ersten Deutschen Mountainbike-Meisterschaft 1990. Weil den Funktionären die neue Sportart zu piefig erschien und sie ihr deshalb den Meisterschaftsstatus verwehrten, ließ Renner einfach eine halbseitige Rennausschreibung in die Verbandszeitung drucken. 1 000 Fahrer kamen zu den Titelkämpfen nach Münsingen, die schließlich Superstar Mike Kluge medienwirksam gewann. Noch im selben Jahr richtete der Verband eine offizielle Meisterschaft aus.
„Ich fand das obergeil, den Funktionären eins reinzuwürgen“, lacht Renner, der ewige Kämpfer. „Wenn der grüne Handschuh nicht abgeholt wird“, droht der Moderator, „fliegt das Ding in die Tonne“.
Renner biegt auf die Zielgerade und wird vom Streckensprecher kurz als Nummer „226“ begrüßt. Für mehr ist keine Zeit. Schließlich schlendert gerade der Juniorensieger vorbei – die Chance für ein Interview. „Hallo, wie fandest du das Rennen?“, fragt der Moderator. „Hat Spaß gemacht.“ „Okay, danke.“ Renner steht daneben und wischt sich mit dem Unterarm die schweißige Stirn trocken. Eine Stunde ist er Vollgas gefahren. Zum Treppchen hat es nicht gereicht.
„Super war es. Wie früher, nur langsamer“, grinst er. Nein, noch mal wird er sich so was nicht antun. Er ist ja nicht mehr der Jüngste, das hat er am Steilstück deutlich gemerkt. „Tachchen“, tönt es von links: „Ich habe gehört, Sie sind irgendein bekannter Fahrer“, fragt ein Typ mit Camcorder, der sich schließlich als Veranstalter vorstellt. Er würde immer „so Kurz-videos“ von den Rennen „schneiden“ und deshalb gerne ein Interview machen. Einfach improvisiert, er habe ja keine Fragen vorbereitet. Also Kamera an: „Wie finden Sie das Rennen? Finden Sie den Kaffee zu teuer? War die Strecke anspruchsvoll?“ Und, ach ja: „Vielleicht können Sie sich kurz mal vorstellen.“
Story aus dem Jahr 2006