Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Die Bastion

Fernostproduktion, Standart-Irrsinn, Rabattschlachten und alle halbe Jahre ein neuer Trend-Orkan: Die Bike-Industrie droht Teil der Wegwerfgesellschaft zu werden. Der US-Amerikaner Chris King kämpft seit mehr als 40 Jahren dagegen an. Mit unzerstörbaren Steuersätzen und Naben. Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Text und Fotos: Henri Lesewitz

Chris King Portland Steuersätze Lager Kultteile Chris King, König der Steuersätze.


Der König der Steuersätze kommt in den Rolling Stones-Song geschritten, als hätte ein Choreograf das Kommando gegeben. Es ist nur die Firmen-Kantine, doch der Sound wummert in tanzbarer Lautstärke aus den Boxen. Honky Tonk Woman, der legendäre Schunkel-Hit aus der Zeit, in der er, Chris King (62), einst beschloss, der Wegwerfgesellschaft den Kampf anzusagen – mit präzise gefertigten, unzerstörbaren Steuersätzen. Mehr als 40 Jahre ist das her. Doch im Gegensatz zum Stones-Hit, der forsch und treibend wie eh und je aus der Anlage röhrt, wirkt King an diesem Vormittag müde. Einen Moment lang steht er unschlüssig in der Klangberieselung, als wäre er der letzte Gast einer durchgemachten Partynacht. 

Das ist er also, der Mensch hinter der wohl ikonischsten Marke im Mountainbike-Universum. Braungraue Arbeitsschuhe, grüngraue Arbeitshose und im Gesicht ein amtlicher Seventies-Schnurrbart, wie ihn heutzutage Großstadt-Hipster in einem Balanceakt aus modischem Wagemut und Selbstironie gerne tragen. Der Moment hat etwas Surreales. Als würde man einem Phantom begegnen. Seit Jahrzehnten genießen Chris-King-Produkte weltweit einen exzellenten Ruf. Auf YouTube feiern Fans den Sound der Hinterradnabe, die Filmschnipsel mit dem infernalen „Angry Bee“-Kreischen haben ähnlich viele Likes wie Rocksongs. Doch über den Menschen Chris King ist so gut wie nichts bekannt. Googelt man den Namen, ploppen Bilder von Naben, Steuersätzen und Lagern auf. Selbst auf der Firmen-Website findet sich kein Porträt.


Reporter-Frage: „Heißt Du wirklich Chris King, oder ist das ein Künstlername?“

„Soll ich meinen Pass zeigen?“, schmunzelt King, der natürlich tatsächlich so heißt. Dann lässt er sich geschafft auf einen der Kantinenstühle sinken. Die Nase läuft, er ist angeschlagen. Andere würden auf dem Sofa liegen. Doch sein Kampf gegen die Wegwerfgesellschaft lässt King dafür gerade keine Zeit.

 Es ist Montag. Am Wochenende war Open House Party. Zwei Tage lang volles Programm. Werksführungen. Feiern. Rahmenbauer-Contest. Und als Höhepunkt eine Podiumsdiskussion über die aktuelle Entwicklung in der Bike-Industrie – live übertragen über das Internet. Das Thema liegt King am Herzen wie kaum ein anderes. Es hat ihn in den letzten Jahren reichlich Nerven gekostet. Diese unaufhörliche Schwemme immer neuer Einbaustandards, die Zubehöranbietern wie ihm das Leben schwermachen und Biker in den Wahnsinn treiben. Auf mehr als 1000 Optionen ist allein das Nabensortiment von Chris King angeschwollen, alle Farb-, Achs- und Freilaufvarianten eingerechnet. Bei den Steuersätzen und Innenlagern ist es ähnlich unübersichtlich geworden. Und es wird immer schlimmer. Gerade hat Shimano einen neuen, eigenen Freilaufstandard vorgestellt, der mit fast nichts am Markt kompatibel ist. Es ist zum Verzweifeln.

„Warum setzen sich nicht alle an einen Tisch und einigen sich auf gemeinsame Standards?“, fragt King. Die Frage ist rhetorischer Art. Denn natürlich kennt er die Antwort. Das fortwährende Überbordwerfen des Bestehenden ist der Motor der ganzen Branche. Es ist ein erbarmungslos geführter Kampf um Verkaufszahlen und Marktanteile. Produziert wird inzwischen fast nur noch in Billiglohnländern. Eine gigantische, unaufhörliche Druckbeflutung des Marktes mit Bikes und Teilen, die vom nächsten Mikro-Trend bereits wieder auf den Komposthaufen der Geschichte gespült werden. Es liegt auf der Hand, dass man sich die Frage stellt: Ist das wirklich nötig? Jedes Jahr neue Trends, neue Bikes, neue Modelle, neue Einbaustandards, neue Rabattschlachten? Wegen ein paar Millimetern hoch, längs oder quer? Als wenn es das wäre, um das es beim Biken geht.

 

Das Büro von Chris King ist vollgestellt mit Prototypen, Kisten und Nippes.


Chris King ist das Gegenkonzept. Würde man sich den globalen Ellenbogenkapitalismus als römisches Heer vorstellen, dann wäre der weiße Betonklotz am Stadtrand von Portland im US-Bundesstaat Oregon jenes kleine gallische Dorf, von dem in den Asterix-Romanen die Rede ist – die letzte Bastion. Es gibt ein paar Schmieden, die ähnlich ticken. Hope, Tune, White Industries. Aber keine wirft sich derart rein wie Chris King. Es ist nicht einfach, dieses hochkomplexe Konstrukt aus Qualitätsfetisch, Nachhaltigkeitsgedanken, Öko-Ambitionen und Fair-Trade-Aspekten zu verstehen, das die Firma so einzigartig macht. Am besten man fängt im Treppenhaus an.

„Da oben zum Beispiel ...“, sagt King und zeigt auf die Rohre entlang der Decke: „Die Heizung wird mit Wärme gespeist, die bei der Produktion entsteht. Das ist gut für die Öko-Bilanz und spart uns 9000 bis 10000 Dollar im Monat.“ Seit einer halben Stunde schon steht King im Treppenhaus und referiert wortreich über die baulichen Raffinessen des Gebäudes, die Energie und Kosten sparen sollen. Man hat noch nicht die Produktionshalle gesehen, nicht mal das Lager für das Rohmaterial. Doch man spürt bereits, mit welcher Besessenheit King jedes noch so kleine Detail durchdenkt. Es geht immer um Öko-Bilanz, gleichzeitig aber auch ums Kaufmännische. Als wären diese Themen Siamesische Zwillinge. King führt um die Ecke herum in eine Art Vorhalle und nimmt vor einem Container Aufstellung, der randvoll gefüllt ist mit Metallspänen. Aus der großen Halle nebenan dringt Produktionslärm, es riecht nach verbranntem Metall. King zupft einen langen gekräuselten Alu-Span aus dem Container.

Chris King Portland Steuersätze Lager Die Alu-Späne der CNC-Fräsen werden gesammelt und später zu Pucks gepresst.


„Neunzig Prozent des Rohmaterials werden zu Abfall“, sagt er. Kurze Pause. Dann schiebt er ein feierliches „Aber!“ hinterher. Routinierter Griff nach einem Alu-Puck, der auf der nebenstehenden Maschine liegt. Voilà! Irgendwann sei ihm die Idee gekommen, die Späne zu Pucks zu pressen, was das Recycling einfacher und effektiver mache, informiert King. Sämtliche Fräsen in der Firma würden mit biologisch abbaubarem Schneide-Öl aus Raps arbeiten. Beim Pressen könne es nahezu komplett zurückgewonnen und anschließend wiederverwendet werden. Das gesparte Öl fange die Kosten für die Metallpresse ziemlich exakt auf.

Alu-Späne in Puck-Form.

So zieht sich das durch den gesamten Herstellungsprozess. Angefangen beim Rohmaterial, das ausschließlich bei nahen Produzenten gekauft wird, um die Transportwege kurz zu halten. Bis hin zur Firmenkantine, wo es nur Gerichte aus fair gehandelten Zutaten gibt. Ökonomie und Ökologie. Selbst hier symbiotisch miteinander verschmolzen.

„Die Mitarbeiter müssen nicht mehr mit dem Auto zum Lunch fahren“, erklärt King: „Und wir haben ein Bonusprogramm. Wer mit dem Bike kommt, kriegt das Essen gratis.“ 

King ist klar, dass es keine klimaneutrale Produktion geben kann, und er will auch nicht mit der Moralkeule herumfuchteln. Aber es ist ihm wichtig, den ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Für jedes je hergestellte Chris-King-Produkt gibt es Ersatzteile.

King wuchs in Santa Barbara auf, dem Surfer-Paradies an der Westküste. Es war die Zeit der Hippies. Anti-Atomkraft, Bio-Food, Make-Peace-not-War-Romantik. King hatte eine Ausbildung als Maschinenbauer absolviert. Er hätte einen hoch bezahlten Job bei einem der vielen Rüstungszulieferer bekommen können. Aber das kam für Pazifist King nicht infrage. Er wollte lieber Teile für diese neuen Gelände-Bikes bauen, die gerade so hipp waren. Und weil bei denen ständig die Steuersätze kaputtgingen, die Mitte der Siebziger-Jahre noch zumeist aus Rennrädern stammten, wusste er auch, was für welche. 

Die Chris-King-Steuersätze, damals noch mit Lagern aus medizinischen Geräten, wurden der Renner. 1982 startete King eine eigene Kugellagerproduktion. Die Steuersätze waren so präzise gefertigt und robust, dass King lebenslange Garantie drauf gab. Eine Sensation für die damaligen Verhältnisse, wo Steuerlager oft schneller verschlissen als Reifen. Ein King-Steuersatz war eine Anschaffung fürs Leben. Wie eine Leica-Kamera oder ein Marantz-Verstärker. Ein Versprechen für Wertbeständigkeit und Zuverlässigkeit. Etwas zum Vererben. Im Museumsbereich kann man die Firmengeschichte besichtigen. Die alte Drehbank, auf der King 1976 die ersten Steuersätze fertigte. Die von Staub und Schweiß mumifizierten 70er-Jahre-Radschuhe Kings, die er bis zum Gehtnichtmehr trug als Statement für bewussten Konsum. Das 1993er-Yeti, dessen gerissenen Rahmen er reparierte und bis 2008 fuhr. Das zweite gebaute Bike seiner phasenweisen Zweitmarke Cielo. Und natürlich die Trophäe der MTB Hall of Fame, in die er 2006 aufgenommen wurde – unter anderem wegen des „sozialen Gewissens“, das in den Produkten stecke, wie es in der Laudatio hieß. Ins Weiße Haus wurde er deswegen auch schon eingeladen. Von Obama. Chris King, der Öko-Rebell?

Chris King Portland Steuersätze Lager Seit 2006 ist Chris King Mitglied in der MTB Hall of Fame.


„Im Herzen bin ich immer noch ein Hippie“, lächelt King und zeigt auf seine langen Haare, die er zum Zopf gebunden trägt. Er sitzt jetzt im moosgrünen Drehsessel seines Büros, das sich im Obergeschoss befindet und einen interessant vernachlässigten Eindruck vermittelt. Die Innenwände sind vollständig verglast. Wären die Fensterbretter nicht so rappelvoll mit Prototypen, Frästeilen und Andenken vollgestellt, könnte man vom moosgrünen Drehsessel aus direkt in die Produktionshalle gucken. Man hört die Symphonie der Maschinen, die von den Glasfronten angenehm gedämpft wird. Das Zischen, das Dröhnen, das Kreischen, das Hämmern. King lehnt sich zurück, verschränkt die Arme.

„Bei der Eurobike-Messe kamen ein paar Chinesen zu uns und fragten, warum wir denn alles selbst produzieren. Das sei doch viel zu teuer. Sie schlugen vor, das für uns zu übernehmen.“ King lässt den Worten Zeit, ihre Wirkung zu entfalten. Dann lacht er, dass sein Hippie-Zöpfchen auf der Schulter tanzt. So munter und vergnügt, wie ein Hippie-Zöpfchen nur tanzen kann.