Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Plüsch mit Rauputz

Die Pyrenäen überqueren. Die Beine dabei ordentlich mit Laktat durchspülen. Das dachte Reporter Henri Lesewitz, als er einen Startplatz für das siebentägige Etappenrennen Transpyr buchte. Hätte er mal das Kleingedruckte gelesen.

Text und Fotos: Henri Lesewitz


Wer Großes vorhat, der sollte auch das Kleingedruckte lesen. Doch, wenn man sich getrieben von Kilometerhunger durch die Marathon-Webseiten klickt, dann interessiert einen eben nur das Großgedruckte. Im Falle der Transpyr: „7 Etappen, 800 Kilometer, 18000 Höhenmeter – Coast to Coast!“. Die perfekten Eckdaten, um den Schweiß im Rahmen einer Rundum-Erlebniswoche mal wieder ordentlich aus den Poren suppen zu lassen. Hatte ich gedacht. Und nun das!

Nervös, der Puls vor Aufregung erhöht, stehe ich bei der Startnummernausgabe. Der Haftungsausschluss ist unterschrieben, die Handynummer meiner Gattin in die Liste mit den Notfallkontakten eingetragen. Meine Beine: glattrasiert, gedrillt von unzähligen Vorbereitungskilometern und bereit für das Laktatinferno. Dass nebenan, keine 100 Meter entfernt, die Wellen des Mittelmeers träge und lauwarm an den Strand schwappen, ist mir so was von egal. Meine Gedanken kreisen um Wichtigeres. Wie viele Riegel werde ich pro Etappe brauchen? Ist der Trinkrucksack mit der Zwei-Liter-Blase groß genug? Fragen, die darüber entscheiden werden, ob ich den Wahnsinn überlebe. Da sagt einer der Österreicher, mit denen ich im Shuttle-Bus vom Flughafen saß:

„Ich bin mal gespannt, wie das hier wird vom Race-Feeling. Nur einzelne Abschnitte auf Zeit zu fahren, ist bestimmt ungewohnt.“ 

Wie? Nur einzelne Abschnitte auf Zeit? Irritiert hake ich nach. Und tatsächlich: Bei der Transpyr werden nur Stages gewertet, auf jeder Etappe ein bis zwei Zeitzonen zwischen 10 und 20 Kilometern Länge. Der Rest wird neutralisiert abgespult.

 Es ist, als würde mich das Paradies mitten rein in die Hölle spucken. Einen kurzen Moment lang kippelt meine Laune zwischen Ungläubigkeit und Schock. Dann weicht die schöne, prickelnde Nervosität aus mir wie die Luft aus einem geplatzten Reifen. Ist das hier etwa gar kein richtiges Rennen? Bin ich den weiten Weg hierhergekommen, um mit verdorrten Schweißdrüsen über die Pyrenäen zu zuckeln? Sieben Tage lang, im Unterpuls. Ist der vermeintliche Wadenschocker in Wirklichkeit eine Entspannungsfahrt? Oder schlimmer noch: Urlaub?

„Eigentlich ist es ja ein sinnvolles Konzept“, reißt mich der Österreicher aus den Gedanken: „Wer nach zwanzig Kilometern der Schnellste ist, der wird es sicher auch nach 100 Kilometern sein. Also wozu dann der Stress?“

 Seltsam ist das, mit gänzlich erloschenem Panikgefühl an einer Startlinie zu stehen. Ein surrealer Moment. Meine Sorge um Positionskämpfe, Krämpfe, Stürze und Hungerast tendiert gegen Null. Die anderen um mich herum aber wirken hochgradig nervös. 105 Kilometer und 1700 Höhenmeter sind es bis zum Tagesziel Camprodon. Die Wertungsprüfung kommt erst kurz vor Schluss und macht mit 18 Kilometern und knapp 700 Höhenmetern keinen furchterregenden Eindruck. Nur, wieso dehnen sich dann alle und hüpfen sich warm? Kann es sein, dass sie irgendwelche entscheidenden Infos haben, die mir mal wieder entgangen sind?


Es beginnt mit der Filmmusik von „Der Herr der Ringe“. Ein hochdramatischer, orchestraler Sound-Teppich, zu dem der Streckensprecher jeden der knapp 400 Fahrer mit Vor- und Zunamen anmoderiert ins Rennen schickt, so herrlich überakzentuiert und aufgekratzt, als wären die Aufgerufenen Superstars. Alle zehn Sekunden knetet einer im Wiegetritt aus dem Startgatter – entgegen meinen Erwartungen wie vom Bären gejagt. Die ersten Teams und Solofahrer verklumpen sogleich zu Grüppchen.

Das Tempo knapp unter Maximum, rasen die Pulks davon. Die Strandpromenade entlang. Die Ausfallstraße, in deren Verlauf der Küstenort Roses mit jedem Kilometer mehr zerfasert, bis das Auge schließlich nur noch über weites, staubiges Ackerland blickt. Und schließlich mitten rein in dicht bewachsene, verschachtelte Waldabschnitte, in denen die Topografie so langsam ihre Krallen ausfährt. Die Steilstücke bieten den Übermotivierten Gelegenheiten für erste Machtdemonstrationen. Es ist noch der neutralisierte Teil, aber das scheint absolut niemanden zu interessieren. Alles ist wie bei einem normalen Marathon. Harte Typen auf harten Bikes, die in einer Art auf die Pedale stampfen, die man als gereizt bezeichnen könnte. 

Als schließlich hinter dem Dörfchen Can Bundanci das Fiepen der Lichtschranke den Beginn der Wertungs-Stage signalisiert, bin ich bereits gut zermürbt. Doch nun geht es erst so richtig los. Der Laktatschmerz fährt mir in die Beine, als hätte mir jemand mit einem Nagelbrett auf die Oberschenkel gedroschen. Es ist, wie gleichzeitig einen Marathon und ein Cross-Country-Rennen zu fahren. Fieser, intensiver, quälender als alles, was ich bisher erlebt habe. Erst nach knapp einer Stunde erlöst mich das Fiepen der Lichtschranke. Was für eine Tortur!

Man muss es erleben, um es zu begreifen. Die Transpyr ist tatsächlich kein normales Etappenrennen. Sie verzurrt das Schweißtreibende von Marathon mit dem Brutalen der Kurzstrecke – abgemischt von einer Brise Abenteuer, denn die Strecke ist nicht ausgeschildert. Navigiert wird per GPS. Was schon aus logistischen Gründen nicht anders geht. Die Pyrenäen, die sich entlang der spanisch-französischen Grenze vom Mittelmeer bis zum Atlantik spannen, sind von wesentlich wilderem Charakter als die Alpen. Jeden Abzweig auszuschildern, jede heikle Stelle abzusichern, wäre unmöglich. Deshalb auch der Modus mit den Stages.


„In den ersten Jahren wurden noch die kompletten Etappen gewertet. Wie bei der BIKE-Transalp, die das Vorbild unseres Rennens war. Aber der Aufwand mit der Streckensicherung war extrem“, sagt Oriol Sallent, ein sehniger Spanier, der die Transpyr zusammen mit seinem Bruder Francesco zum zehnten Mal organisiert. Das Rennen gilt als Geheimtipp in der Ausdauerszene.

Der dritte Tag, ein Oschi von Etappe. 107 Kilometer, 3200 Höhenmeter. Zwei Stages. Dazu miesepetriger, kalter Starkregen. „The Day of Pain!“, grinst der Jenaer Alexander Valdiek, der das Rennen weniger aus Platzierungseifer, sondern vielmehr zur Stillung seines im Alltag angestauten Erlebnishungers bestreitet. Valdiek ist Geschäftsführer eines größeren Unternehmens, er hat vier Kinder. Seine Freizeit ist knapp, weshalb er zur Vorbereitung auf das Rennen auch mal 160 Kilometer auf der Rolle abgespult hat. Er ist topfit. Doch mit dem forschen Tempo und der toughen Strecke hatte auch er nicht gerechnet.

„Die Typen hier sind nicht aus Plastik“, presst er ein kurzes Zwischenfazit durch die Lippen. Dann tritt er wieder still vor sich hin wie all die anderen, während sich der Himmel gnadenlos auskotzt. Eklig ist das. Aber auch geil. Die Serpentinen. Das Prasseln des Modders gegen den Rahmen. Die blickdichten Schwaden am Gipfel, wie im Horrorstreifen „Der Nebel des Grauens“. Die krass verblockte, schlierige Endlosabfahrt runter nach Gerri de la Sal, die jedem das Blut in den Adern gefrieren lässt, der nicht virtuell auf der Klaviatur der Fahrtechnik zu spielen vermag.

Die Transpyr ist ein fein komponierter Erlebnisparcours, der Nerven und Beine gleichermaßen austestet. Kämpfen, leiden, bezwingen. Es ist das rigorose Freilegen von dem, was Menschen von jeher fasziniert. Interessant auch, wie deutlich das Rennen die Grenzen der Technik und die Macht der Beine herausschält. Die Starter der E-MTB-Kategorie setzen pro Etappe drei Akkus ein, kurbeln aber dennoch langsamer hinauf als die flotten Unmotorisierten. Akkus sind nicht annähernd so zäh wie Beine.


Die Tage gleiten dahin wie Schwalben im Sommerwind. Das Dickicht bei Senterada erinnert an das dschungelige von Honduras. Die Bergriesen hinter Espès: dolomitenartig. Die Canyons rund um Ainsa: Gran-Canaria-haft. In symbiotischer Eintracht arbeitet sich die keuchende, schwitzende Meute Richtung Atlantik. Mal provoziert die Strecke eine heftige Laktatattacke, mal sackt der Puls in freundlichen Trail-Passagen auf Kompensationsniveau ab. Plüsch mit Rauputz, denke ich. Da schimmert kurz vor Hondarribia plötzlich der Atlantik in der Ferne. Es ist das gleiche Schimmern wie sieben Tage zuvor am Mittelmeer, wo es für mich nichts weiter als Kulisse war. Doch diesmal wirkt das Schimmern verheißungsvoll, ja geradezu verlockend. Liegt es an meinen mausetoten Beinen, die gemästet sind mit Höhenmetern?

Die Antwort durchzuckt mich wie ein Blitz: Ich bin tatsächlich urlaubsreif. Schon seltsam, dass einen das nach einem Ritt wie diesem hier so überrascht. Aber das kommt halt davon, wenn man vor dem Start das Kleingedruckte nicht liest.
Der Laktatschmerz fährt in die Beine, als hätte mir jemand mit einem Nagel­brett auf die Schenkel gedroschen. Es ist, wie gleichzeitig einen Marathon und ein Cross-Country-Rennen zu fahren. Fieser, intensiver und quälender als alles, was ich bis bisher kannte.