Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Alles Fake

Auf die Idee muss man erst mal kommen, alle wegen Corona abgesagten Marathon-Klassiker auf der Hausrunde zu fahren. Lässt sich etwas so Unkopierbares wie der legendäre GRAND RAID CRISTALP auf der Schwäbischen Alb simulieren? Henri Lesewitz war bei der verrücktesten Marathon-Serie des Jahres am Start.

Text: Henri Lesewitz / Fotos: Max Fuchs


Ein Marathon kann die Hölle sein, im Grunde genommen muss er das sogar. Doch wenn man aufgibt, wenn sich das Selbstmitleid als stärker herausstellt als der Durchhaltewille, dann wird es richtig schlimm. Dann holt das Rennen deine Seele.

Mit oszillierendem Puls, in jeder Hand eine gefüllte Trinkflasche, tipple ich durch den schummerig beleuchteten Hotelflur Richtung Ausgang. Draußen ist es stockdunkel. Bis zum Start um 5:30 Uhr sind noch knapp 20 Minuten Zeit. Die Stresshormone sind bereits in heller Aufregung. Lustig, meine Psyche hat den Schwindel offenbar noch nicht bemerkt. Wie auch? Die Trikottaschen sind vollgestopft mit Gels, denn die Strecke des Grand Raid ist ein unbarmherziger Kraftsauger. Wer schlappmacht und die Karenzzeiten nicht schafft, wird an den Zeitmessteppichen gnadenlos aussortiert. 125 Kilometer und 5025 Höhenmeter gilt es, bei der sagenumwobenen Härteprüfung von Verbier nach Grimentz zu bezwingen. Ein Höllenritt, den nur die wirklich Besessenen unter den Eisenharten durchstehen. Man müsse bereit sein zu sterben, so steht es in der Mythen-Schmiede Internet. Der Gedanke an die nächsten Stunden hat meinen Körper und meine Psyche in maximale Alarmbereitschaft versetzt. Es ist das original Grand-Raid-Gefühl; das Original-Muffensausen, die Original-Mischung aus Angst und Lust. Es ist der Original-Tag und auch die Original-Uhrzeit. Dabei ist die ganze Aktion nur ein Fake.


„Na, alles fit?“, vernehme ich eine Stimme aus dem Dunkel, als die Hoteltür hinter mir ins Schloss fällt. Es ist Stephan Gerlach, der sich den Selbstzermürbungswahnsinn zusammen mit seinem Kumpel Stefan Koller ausgedacht hat: das Zelebrieren aller legendären und wegen Corona abgesagten Marathon-Klassiker in ihrem Heimrevier, der Schwäbischen Alb. Riva-Marathon. Sella Ronda Hero. Salzkammergut Trophy. Und heute, sozusagen als großes Finale, der vor Kult und Mythos nur so triefende Schweizer Grand Raid. Immer zum Termin des Originals. Immer mit korrekter Streckenlänge samt Höhenmetern. Die verrückteste Marathon-Serie des Corona-Jahres.

Das also sind sie. Stephan mit ph und Stefan mit f, die beiden, die mich zu diesem Blind Date eingeladen haben. Zwei stolze Lycra-Recken. Die Beine sind nassrasiert und in den Feuern unzähliger Marathon-Höllen geschmiedet. Typen, die nicht so aussehen, als würden sie vierlagiges Klopapier benutzen oder anderweitig dem Soften zuneigen. Was in mir das mulmige Gefühl noch verstärkt, dass bereits der martialische Name des Ganzen hier hervorruft: Alb Epic Death Match. 

Anders als beim echten Grand Raid bin ich bei der heutigen Variante auf Gedeih und Verderb dem Tempodiktat des Duos ausgeliefert. Doch ich wäre natürlich nicht hier, wenn meine Beine nicht ähnlich nach Höhenmetern lechzen würden wie ihre. Sarah und Steffen, zwei Kilometerverrückte aus dem Umfeld der beiden, sind ebenfalls dabei. Komisch, aber lässig ist das, zu fünft am Start des Grand Raid zu stehen, der sich diesmal nicht auf der grell beleuchteten Promenade des Skiorts Verbier, sondern auf der schlapp befunzelten Ortsdurchfahrt des Schwäbischen Kurörtchens Beuern befindet.

„Highway to Hell“, krächzt die berühmteste aller Marathon-Hymnen aus Stephans Handy. Was das aufwühlende Feeling des Original-Starts nur mäßig wiedergibt. Aber originalgetreuer geht es nun mal nicht. Nicht in diesem verfluchten Corona-Jahr.
Der erste Anstieg führt hoch zur Burg Hohenneuffen. Ein paar hundert Höhenmeter auf Schotter, alles noch verschlungen von Dunkelheit. Die Lampen brennen kleine Lichttunnel in den schwarzen Schleier. Der Laktateinschuss in den Beinen lässt darauf schließen, dass es ziemlich bergauf geht. Stephan knetet vorne, das Tempo ist ambitioniert. Dass seine Atemstöße ähnlich hart wie meine sind, beruhigt mich. Sich auf ein Blind Date wie dieses einzulassen, ist schließlich eine Art Russisch Roulette. Oft schon sind mir Ausfahrten als „lockere Ründchen“ verkauft worden, die sich dann zu wahren Horror-Trips entwickelten. Aber die Gruppe scheint gut zu harmonieren. So gut, wie das bei einem Tagespensum von 125 Kilometern und 5000 Höhenmetern eben geht.
„Hey, Stephan, nimm mal Gas raus. Das ist noch ’nen Stückchen heute!“, hallt es von hinten leicht flehend durch die Dunkelheit.

 


Die Schwäbische Alb – eines der imposantesten Mittelgebirge Deutschlands. Ein von Ritterburgen überwucherter Gesteinsriegel, der aussieht wie eine Setzkastenversion der Schweizer Alpen. Dass sich die Grand-Raid-Strecke hier nicht 1:1 nachahmen lässt, ist klar. Die Gipfel sind weniger hoch, dafür gibt es pro Quadratkilometer mehr davon. Was die Schwäbische Cover-Version eher taffer als gemütlicher macht als das Original. Auf jede kurze Abfahrt folgt ein brutaler Gegenanstieg. Genau dieses dichte Aufeinanderprallen von Downhill- und Uphill-Prüfungen war für Stephan und Stefan der Reiz, als sie kurz nach dem Lockdown beschlossen, die bereits durchgeplante Marathon-Saison vor der Haustür durchzuziehen. Eine Challenge, geboren aus Frust und Verzweiflung, um die laktatverwöhnten Beine vor drohender Gemütlichkeitsverwahrlosung zu schützen. Nicht um Platzierungsstress sollte es gehen, sondern ausschließlich um den Kern von Marathon: den Kampf gegen den inneren Schweinehund. Mensch vs. Kilometer. Aus dieser DNA war 1990 der Grand Raid Cristalp entstanden, der kurz darauf die Marathon-Welle auslöste. Eine faszinierende Version von Selbsterfahrung, väterlicherseits verwandt mit dem klassischen Mountainbike-Rennsport und mütterlicherseits mit der Mutprobe.


„Das hier ist so was wie Marathon light“, versucht Stephan eine Schublade für die Alb-Epic-Challenge zu finden, deren Logo er als Tattoo auf dem Oberschenkel trägt: „Das ist definitiv nicht nur eine Tour. Deshalb haben wir auch Startnummern machen lassen, damit ein bisschen Nervosität aufkommt.“

Die Frage ist: Lässt sich ein Kultrennen wie der Grand Raid tatsächlich auf der Hausrunde simulieren? Kann man etwas Unkopierbares wirklich kopieren? Die Antwort ist bereits nach den ersten Kilometern klar: Jein. Echtes Marathon-Gefühl ist natürlich kopiergeschützt. Das Hochpeitschen der Stresshormone. Der Tunnelblick. Das Nahtodgefühl beim Ringen nach Sauerstoff. Doch manche Marathon-Facetten fühlen sich beim Alb Epic durchaus originalgetreu an. Der Muskelschmerz. Das Naturerlebnis. Das Flehen des Körpers nach Pause. Die Beine bekommen dieselbe Überdosis Kilometer und Höhenmeter wie beim Grand Raid, doch alles fühlt sich angenehm abgefedert an. Eine interessante, bisher so nicht gekannte MTB-Spielart, deren Härtegrad perfekt zwischen Anstrengung und Überanstrengung austariert ist. Die Streckenführung lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass Stephan und Stefan Laktat-Sommeliers der begnadeten Sorte sind. Steilstiche, Tempostücke, Downhill-Passagen und Serpentinenbänder sind so raffiniert aneinandergereiht, dass alle Muskelpartien auf ihre Kosten kommen. Heftiger Regen hat den Untergrund mittlerweile in fiese Rutschbahnen verwandelt. Die glitschigen Kalksteine stehen wie T-Rex-Zähne aus dem Boden. Ein suizidales Erlebnis. Die Reifen drehen bergauf sogar im Sitzen durch. Doch davon lassen sich die Streckenchefs nicht beirren. Spontan wird die Route den neuen Bedingungen angepasst.


„Ah, hier können wir gleich den Pas de Lona einbauen!“, ruft Stephan, und schon geht es mit geschulterten Bikes den Steilhang zu den Urbacher Wasserfällen hoch, der heute die Schlüsselstelle des Grand Raid darstellt. Und weiter! Hin zu den Dettinger Höllenlöchern. Runter ins Schnäppchenparadies Metzingen, wo eine Kaffeerösterei als Verpflegungsstation für uns stinkende Matschversiffte herhalten muss. Dann endlich, irgendwo im Uphill-Intermezzo des Lenninger Tals, der große Moment: In einer zähen, steilen Rampe registriere ich die Rebellion meiner mit Sauerstoff unterversorgten Beine. Die Moral hat auch schon Schlagseite. Wir sind seit neun Stunden unterwegs. Ich bin völlig groggy. Ein ekelhaftes Gefühl von Selbstzweifel und Mürbe, das aber ultrawichtig ist, denn es ist die Grundvoraussetzung für den Euphorie-Schwall im Ziel. Als einer, der das unzählige Male erlebt hat, weiß ich natürlich: Beim Marathon scheitert man nicht an Bergen. Auch nicht an Muskelschmerz. Man scheitert an zu weicher Psyche. Also weiter. Treten, treten, treten. Sollen die Beine doch um Gnade winseln. So hart wie der Wille sind weder Muskel noch Beton.


Es ist früher Abend, als wir nach knapp zwölf Stunden im Sattel das Ziel erreichen – die Burg Hohenneuffen. Kein Moderatorenlärm wie sonst in Grimentz. Kein Zuschauerklatschen. Nicht mal eine Ziellinie. Dafür dieses tiefe, wohlige Gefühl von Glück, das einen nur nach einem durchgestandenen Marathon durchfährt. Egal, ob er nun Grand Raid heißt oder Alb Epic Death Match.