Zahn um Zahn
Nach Jahren im Schatten von Shimano hat der amerikanische Hersteller Sram den Schaltungsmarkt komplett aufgemischt. Wobei, so amerikanisch sind die Antriebe des US-Konzerns gar nicht. Zu Besuch in den Schweinfurter Ideenbrutstätte von Sram.
Eher schafft es ein Reporter ins Oval Office als ins Herz eines Komponentenriesen. Wer doch einmal das Glück hat, beispielsweise eine Einladung für eine Shimano-Werksführung zu ergattern, der muss am Eingang Handy und Notizblock abgeben. Bei Continental werden Reporter im Anschluss an die Firmenbesichtigung in einen Konferenzraum gebeten, wo die Notizen einem „Fakten-Check“ unterzogen werden. So läuft das üblicherweise.
Und jetzt das. Nur wenige Schritte entfernt – scheunentorgroß und sperrangelweit offen – gähnt der Eingang zur mythenumrankten Entwicklungsabteilung von Sram. Jenes Schaltungslabor, in dem Meilensteine wie der 1x12-Antrieb ersonnen wurden. Und in dem just in diesem Moment an der Schaltung der Zukunft getüftelt wird. Eine riesige Milchglasmauer trennt den Bereich vom Rest des Hallenklotzes. Doch die gläsernen Flügeltüren stehen einladend offen. Kein grimmiger Security-Hüne davor. Keine wachsame Empfangsdame. Alles, was man als Reporter für seine Arbeit braucht, ist am Mann. Fotoapparat. Videokamera. Notizblock. Smartphone. Ein surrealer Moment vollkommener, journalistischer Freiheit. Ein paar Schritte noch, und man ist mittendrin in einer geheimen, normalerweise streng abgeschirmten Welt. Was da wohl zu sehen sein wird? 13fach-Ritzel? Prototypen einer 14fach-Version? Bluetooth-gesteuerte Getriebeinnenlager? Ganz hippelig vor Neugier, die Kamera im Anschlag, schreitet man auf den Eingang zu. Da reißt einen Max Topp, der PR-Mann, freundlich aus dem Tagtraum.
„Sorry, da können wir leider nicht rein. Die Jungs da drin arbeiten an Sachen, über die wir in fünf Jahren reden. Da liegt zu viel sensibles Zeug rum.“
Schade. Da hat man es ins Schaltungs-Headquarter von Sram geschafft und muss trotzdem draußen bleiben. Wäre aber auch zu schön gewesen. Interessante Einblicke verspricht der Besuch dennoch. Nach Jahren des Mauerblümchendaseins im Schatten des übermächtigen Marktgiganten Shimano ist Sram in verblüffend kurzer Zeit zum Trendsetter der Mountainbike-Branche gewachsen. Der Standort Schweinfurt, in dem alle Antriebe des US-Konzerns entwickelt werden, spielt eine zentrale Rolle dabei. Knapp ein Jahrhundert lang hatte hier Fichtel & Sachs Autoteile und Fahrradkomponenten gefertigt. Als die Firma mit dem MTB-Boom Mitte der Neunziger den technischen Anschluss verlor, war das die Gelegenheit für den gerade steil aufsteigenden US-Hersteller. Sram übernahm die ins Taumeln geratene Fahrradsparte von Sachs.
Erst wenige Jahre zuvor waren die Amerikaner als kleiner Drehgriffhersteller gestartet. Der Kauf von Sachs bildete die Basis, um die großen Player des globalen Fahrrad-Business anzugreifen. Es folgten weitere Übernahmen. Federgabel-Platzhirsch Rockshox. Kurbel-Schmiede Truvativ. Bremsen-Konzern Avid. Ein gigantischer Großeinkauf. Schweinfurt wurde zum Zentrum der Antriebssparte. Dennoch blieben Sram-Schaltungen lange nur hübsch gestylte, aber technisch mutlose Shimano-Alternativen. Bis die Schweinfurter vor zehn Jahren zu einer beispiellosen Innovationsattacke bliesen. Dem radikalen 2 x 10 folgte mit 1 x 11 die Beerdigung des Umwerfers. Sofort danach mischte 1 x 12 den Markt auf, flankiert von der kabellosen Bluetooth-Variante. Nicht mehr Shimano gab plötzlich die Trends vor, sondern Sram. Viele Biker gerieten aber auch ins Stöhnen bei dem unermüdlichen Neuheitenfeuerwerk, das im Jahresrhythmus Hypes gebar, die eben Gekauftes wie im Zeitraffer veralten ließen.
„Der Bereich wird bei uns auch scherzhaft ,Brutstätte des Bösen‘ genannt“, grinst PR-Mann Max Topp.
Wie entsteht eine Schaltung? Warum wird seit hundert Jahren daran getüftelt? Und warum ändert sich der Standard gefühlt jedes Jahr um einen Gang, statt einmal den einen großen Schritt zu tun, der dann für die nächste Dekade Bestand hat? Der Mann, der die Antworten auf all diese Fragen weiß, heißt Andreas Kölsch und wartet bereits in einem der hypermodern ausgestatteten Konferenzsäle. Kölsch ist der verantwortliche Produkt-Manager der Eagle-Schaltungen. Ein groß gewachsener, akkurat frisierter Kumpel-Typ, dem man seine Fahrradleidenschaft ansieht. Der Körper ist austrainiert, die Haut sonnengebräunt. Kölsch, der im engeren Kollegenkreis „Andi“ genannt wird, muss etwas überlegen. Mit einer solchen Frage hat er nicht gerechnet. Wieso folgte auf 3 x 9 nicht gleich 1 x 12? Warum die ganzen Zwischenschritte?
„Alle lieben Veränderung, aber keiner liebt es, verändert zu werden“, tastet sich Kölsch der Antwort entgegen. Zu radikale Umbrüche würden Menschen überfordern. Die Entwicklung einer Mountainbike-Schaltung sei zudem ein Prozess, bei dem viele Aspekte eine Rolle spielen.
„Man kann die Rechnung nicht ohne den Wirt machen“, wird Kölsch präziser: „Der Markt muss es wollen. Als wir 1 x 11 präsentierten, war das ein unermüdlicher Kampf gegen Windmühlen. Bei den Bike-Herstellern zündete das erst mal gar nicht.“ Produkt-Ingenieur Frank Schmidt, der neben Kölsch sitzt, nickt.
„Für solche Sprünge, wie von 3 x 9 auf 1 x 12, fehlt uns vielleicht auch der Mut. Oder die Fantasie“, schmunzelt Schmidt und fügt an: „Selbst, wenn man die Idee dafür hätte, dann müsste man erst mal schauen, ob die Fertigungstechnologie überhaupt mithalten kann. Eine Ritzelproduktion wie für die Eagle-Kassetten hätten wir zu 3x9-Zeiten nicht einfach aus dem Boden stampfen können.“ Knapp eine Stunde plaudern die beiden, und man versteht, wie hochkomplex das Thema ist. Die Idee ist das eine. Die Entwicklung zum fahrfertigen Produkt das andere. Doch die beste Schaltung wird zum Rohrkrepierer, wenn die MTB-Hersteller nicht mitziehen. Aber selbst wenn. Dann steht die große Herausforderung erst noch bevor. Das Produzieren zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Stückzahl, in der richtigen Qualität, zum richtigen Preis. Hergestellt werden die Komponenten in Fernost, nicht in Schweinfurt. Hier werden erst mal nur Ideen ausgebrütet.
Frage: Wie sieht die Sram-Schaltung der Zukunft aus? Schmidt und Kölsch drucksen etwas herum. Natürlich dürfen sie nicht verraten, woran sie arbeiten.
„Die Ideen gehen uns sicher nicht aus“, formuliert Kölsch diplomatisch und lässt zumindest die grobe Richtung durchblitzen:
„Über allem steht: Was hat der Kunde davon? Das Thema Elektronik zum Beispiel bietet viele Vorteile. Der Finger gibt dem Schaltwerk über den Lenkerhebel ein Signal. Es ist eigentlich die unpraktischste Lösung, für die Übertragung ein Stahlkabel zu nehmen, zumal dafür extra eine Führung im Rahmen benötigt wird“, lächelt Kölsch vieldeutig. Im Headquarter in Chicago, so viel verrät PR-Mann Topp noch, gebe es Leute, die sich mit den verrücktesten Dingen beschäftigen. Handschuhe mit Touch-Funktion. Sprachsteuerung. Ausprobiert werde vieles. Ob sich daraus ein ernsthaftes Projekt entwickle, sei eine andere Frage. Was die schwelende Vermutung untermauert, dass das Thema Gangschaltung offenbar noch lange nicht auserzählt ist.
Weiter geht es durch das Hallenlabyrinth. Hin zur Prototypenabteilung, wo die Ideen der Ingenieure mit Drehbänken und CNC-Fräsen in fahrfertige Prototypen verwandelt werden. „Stopp! Keine Fotos!“ warnt ein Schild an der Tür. Der PR-Mann macht eine einladende Handbewegung. Dass nichts „Sensibles“ herumliegt, dafür hat er im Vorfeld des Termins selbstverständlich gesorgt. Der Blick in die Halle ist dennoch beeindruckend. Egal, ob Ritzelpaket oder Schaltwerk, was immer in der „Brutstätte des Bösen“ am Computer entworfen wird, kann wenige Tage später ans Bike montiert und auf den Trails rund um Schweinfurt ausprobiert werden. Dabei gehe es nicht nur um Fahreindrücke, betont PR-Mann Topp und führt in das benachbarte Messlabor.
Es sieht aus wie in einem medizinischen Institut. Überall Mikroskope, 3D-Scanner, Monitore. Hier werden alle Teile vor und nach dem Testeinsatz gescannt und vermessen. Immer bei konstant 20 Grad, um Ungenauigkeiten aufgrund von Temperaturschwankungen auszuschließen. Das Übereinanderlegen der Vor- und Nachher-Scans offenbart gnadenlos jeden Hauch von Abnutzung. Fünf Millionen Messpunkte werden pro Bild erfasst. „Man sieht genau, an welcher Stelle das Teil verschleißt“, sagt Mess-Ingenieur Thomas Fella, der gerade konzentriert eine schonungslos gefahrene Kassette analysiert.
Haltbarkeit ist ein wichtiger Aspekt bei MTB-Komponenten. Reklamationen sind teuer, unzufriedene Kunden Gift fürs Image. Um hier ja nichts zu riskieren, laufen die Prüfstände im hauseigenen Testlabor Tag und Nacht. Der Maschinenpark befindet sich in der Halle nebenan. Natürlich ist auch das Testlabor ein streng abgeschirmter Hochsicherheitsbereich. Normalerweise. Keine Detailaufnahmen von den Prüfständen, bittet der PR-Mann und öffnet die Tür.
Der Leiter der Abteilung, André Gläser, ein bis zum Handgelenk tätowierter Bike-Freak mit ZZ-Top-Vollbart, wartet bereits. In der Luft liegt das rhythmische „tack, tack, tack“ der Maschinen. Elektromotoren und Hydraulikarme von siebzig Prüfständen ziehen und zerren an allen erdenklichen Schaltungsteilen. Rund 5000 Tests werden hier jedes Jahr durchgeführt.
„Wir können alles testen. Auch unter allen möglichen Umweltbedingungen“, informiert Gläser und führt zu einer Art begehbarem Kühlschrank. Eine antike Kältekammer, die noch aus der Zeit vor der Firmenübernahme stammt. „Hier wurden zu Sachs-Zeiten Getriebenaben Temperaturen von minus 40 bis plus 150 Grad ausgesetzt“, erzählt Gläser. Breites Grinsen
„Wenn man den Ein-Schalter drückt, muss man ein Atomkraftwerk hochfahren. Benutzen wir natürlich nicht mehr.“
Ausgiebiges Testen habe in Schweinfurt eine lange Tradition, schweift Gläser in die Vergangenheit. Früher bei Sachs habe es unter anderem den legendären Job des „Einfahrers“ gegeben. Tag für Tag habe der um die 100 Kilometer abgespult, während die am Rad verbauten Prototypen mit Computern im permanent nebenherfahrenden VW-Bus verbunden gewesen seien, wofür zwischen Fahrrad und Fahrzeug eine Kabelbrücke montiert war.
„500 Newtonmeter. Sportwagen-Niveau. Da ist richtig Gewalt dahinter. Aber das muss das Teil aushalten, damit da später auf dem Trail nichts abbricht“, sagt Gläser und schaut fasziniert ins Innere der Foltermaschine.
Es ist später Nachmittag. Alles ist angeschaut. Der Schulungsbereich, in dem Workshops für Händler gegeben werden – wegen der Corona-Auflagen momentan allerdings nur per Videoschaltung. Der Event-Truck, der firmeneigene Dirt-Parcours und auch der riesige Konferenzsaal sind besichtigt, wo die Geschäftsführung jeden Montag das wöchentliche Standort-Briefing gibt. Alles ist gesehen – bis auf das Wichtigste, das Herz des Ganzen: die Entwicklungsabteilung. Was so ist wie ein Berlin-Besuch ohne Brandenburger Tor. Letzter Versuch. Nicht wenigstens mal kurz gucken?
Der PR-Mann lächelt, als hätte man einen guten Witz erzählt. Dann führt er den Reporter freundlich plaudernd zum begehbaren Zeitstrahl mit den Highlights der Firmenhistorie, neben dem sich auch direkt der Ausgang befindet.