Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Einer für alles

Bei der Singlespeed-Weltmeisterschaft in Bend/USA wurden alle Regeln außer Kraft gesetzt. Es gab nur eine: Die Siegermedaille wird tätowiert. Wie fühlt es sich an, einen Marathon mit einem Gang zu fahren? Die Beine von Reporter Henri Lesewitz stehen immer noch unter Schock.

Text und Fotos: Henri Lesewitz


Jacquie hat ihren Penis im Hotel gelassen. Sie hat wohl Angst, dass er sich im Bike verheddert oder gar abreißt. Jacquie ohne Penis, das ist kein gutes Zeichen. Jetzt bekomme ich aber doch ein bisschen Muffensausen.

Bis eben noch sah alles nach endlosem Halligalli aus. Seit Tagen kurbeln heiter gelaunte Biker-Meuten durch Bend, das beschauliche Örtchen im Herzen des US-Bundesstaates Oregon, das seinen überregionalen Bekanntheitsgrad der Tatsache verdankt, die landesweit höchste Kneipendichte pro Einwohner zu haben. Was für Kenner der Singlespeed-Szene schon mal eine gute Voraussetzung für einen Austragungsort der alljährlichen Titelkämpfe ist. Aus allen Teilen der Welt sind sie angereist. Japan. Slowenien. Philippinen. Sogar ein Tasmanier ist hier. Knapp Achthundert sollen groben Schätzungen nach durch Bend schwirren. Eine kunterbunte, schrille Typenparade, die sich von Otto-Normal-Bikern durch interessante Verhaltensmuster unterscheidet. In Schwärmen und gerne karnevalsmäßig kostümiert, biken sie sich den lieben langen Tag lang glücklich, während der Verzicht auf Gangschaltungen ein Mindestmaß an Laktatausschüttung garantiert. Sobald die Sonne untergeht, werden vor dem erstbesten Pub alle Bikes auf einen Haufen geschmissen – ein Symbol familiärer Verbundenheit. Und dann stehen sie da und trinken Bier. Nicht wie gewöhnliche Durstige das tun, sondern so wie Rocker. Ein guter Moment für Jacquie Phelan (63), x-fache US-Meisterin in den Achtzigern und Mountainbike-Legende, die Feiernden mit ihrem mächtigen Stoffpenis zu erschrecken, der gen Himmel erigiert, sobald sie ihr Bike-Röckchen nach oben lupft.

MTB-Legende Jacquie Phelan weiß stilvoll zu schocken.


Schon schräg. Da stehe ich am Start einer Weltmeisterschaft und ein fehlender Stoffschniedel bringt meine Psyche zum Taumeln. An jedem der vergangenen Tage hatte Jacquie das Röckchen an. Heute am Renntag trägt sie Lycra. Das macht mich nervös. Jacquie kennt sich aus mit den Tücken einer Singlespeed-WM, sie ist fast jedes Jahr dabei. Weiß sie etwas, was ich nicht weiß? Wird es vielleicht doch wild und anstrengend? Ein richtiges Rennen vielleicht sogar? Aber falls ja, wieso steht dann links neben mir Sponge Bob und rechts neben mir Elvis?


Es ist kurz vor 10 Uhr, der Parkplatz vor der Thump-Kaffeerösterei ist proppenvoll. Alle wuseln durcheinander. Der Startort wurde gestern per Facebook bekannt gegeben. Keiner weiß, in welche Richtung es geht. Niemand hat die Rennstrecke zuvor gesehen, geschweige denn befahren. Auch über die Länge und die Höhenmeter des Rennens gibt es nur vage Gerüchte. Es wird getuschelt, dass extra für die WM ein sagenhafter Trail gebaut wurde, der sich auf Privatland befindet. Es ist traditionell die einzige Regel bei Singlespeed-Weltmeisterschaften, dass es nur eine einzige Regel gibt: Der Sieger bekommt die Medaille tätowiert. Der Rest ergibt sich. 

Bei einer rauschenden Party am WM-Vorabend wird stets der Austragungsort für die nächsten Titelkämpfe ausgespielt – mit reichlich Bier und Nonsens-Wettbewerben. Jeder Ausrichter darf den Modus seines Rennens selbst festlegen. Es ist nicht ganz klar, was passieren wird. Schon der Joint in der Startertüte vermittelt nicht den Eindruck, dass man sich größere Sorgen wegen der Strecke machen müsste. Und auch sonst wirkt alles wenig UCI-konform. Fast alle tragen wilde, für ausufernde Sportaktivitäten vollkommen ungeeignete Outfits. Einer steckt in einem Bigfoot-Kostüm, das in Ganzkörperbauweise gefertigt ist und aufgrund seines hohen Kunstfellanteils maximalen Isolationsfaktor haben dürfte. Eine Teilnehmerin lotet mit einem hautnah sitzenden Glitzereinteiler gekonnt die Grenze zwischen an- und ausgezogen aus, sie sieht aus wie mit Blattgold überzogen. Jeder scheint bemüht, nicht den geringsten Verdacht aufkommen zu lassen, verspannt oder ehrgeizig zu sein. Eine skurrile Szenerie. Zufällig Vorbeischreitende würden wohl ungläubig starren und mit den Händen Scheibenwischerbewegungen vollführen. Eine Singlespeed-WM ist ein rätselhaftes Universum. Eine Welt für sich. Der achte Kontinent. Man weiß gar nicht, wie man es beschreiben soll.


Plötzlich Motorradgeknatter, Aufregung, Pedalgeklicke. „Have fun!“, ruft der Rennchef, ein schlaksiger Typ namens David Marchi. Da geht es auch schon los.

Das Tempo ist unerwartet forsch. Es ist noch die neutralisierte Phase, doch mein Gefühl in Bezug auf Jacquies Penis scheint richtig gewesen zu sein. Gleich wird es zur Sache gehen. In Fahrtrichtung stülpen sich stolze Mittelgebirgsbeulen aus der Landschaft. Zudem können die Kostüme derer, die sich vorne im Feld eingereiht haben, nicht kaschieren, was für laktatgeile Biester in ihnen stecken. Marathon-Crack Payson McElveen (25) hat sich einen Schnurrbart rasiert, wirkt aber angriffslustig. An seinem Hinterrad lauert der austrainierte Ex-Profi Carl Decker (43), der 2008 in einem „Borat“-Tanga den Titel gewann. Und auch die nahezu fettfreie Cyclocross-Heldin Rachel Lloyd (44) kurbelt mit idealem Tritt dem scharfen Start entgegen – ein prächtiger Superhero-Umhang auf den Schultern flatternd.

„Hey, where are you from?“, startet der neben mir Fahrende einen Neutralisierungsphasen-Smalltalk. „I’m the German National Team“, rufe ich. Mein Nebenfahrer grinst. Ich bin tatsächlich der einzige Deutsche am Start. Eine Ein-Mann-Nationalmannschaft, von der MTB-Bundestrainer Peter Schaupp keinerlei Kenntnis hat.


Das Führungsfahrzeug ist kaum ausgeschert, da rasen alle los wie die Angezündeten. Wie in einem Video, das zu schnell abgespielt wird. 150er-Trittfrequenz, mindestens. Noch ist es flach. Mein Daumen zuckt reflexartig. Doch da, wo sonst der Schalthebel sitzt, ist nichts als heiße, staubige Luft. Ich kur­ble mit dem üblichen 2:0-Verhältnis, was 32:16 entspricht. Die meisten leiern heftiger, sie haben kleiner gekettet. Wahrscheinlich haben sie geahnt, dass die stolzen Bergriesen, die sich rund um Bend aus der Landschaft stülpen, nicht unbefahren bleiben. Es ist die große Kunst beim Singlespeeden, die richtige Übersetzung zu wählen. Selbst die Beste ist nur ein Kompromiss. Ein Singlespeed-MTB ist so etwas wie das mountainbikerische Existenzminimum. Es lenkt den Blick auf das Wesentliche, das Treten. Glücklich sein mit einfachen Mitteln. So wie es Gary Fisher und Co getan haben, als sie in den Siebzigern mit ihren „Klunkern“ den Urknall des Mountain­bikens auslösten. 

 Singlespeed-Biken fühlt sich auf geile Art pur an. Mensch vs. Berg. Ein Duell, das durch technisches Hochzüchten im Laufe der Jahre immer mehr verwässert wurde. Berge werden heutzutage weggeschaltet, ja sogar mit Motoren neutralisiert. Sich in den Möglichkeiten verlieren, das ist das vielleicht größte Problem der Bike-Industrie, schießt es mir gerade durch den Kopf. Da bäumt sich vor dem Vorderrad die Piste auf. Ein Ungeheuer aus Schotter. Das Duell beginnt. Mensch vs. Berg. Unverwässert, unausweichlich.

Das Laktat verharrt einen kurzen Moment in Erwartung des Schaltvorgangs. Dann fährt mir der Schmerz in die Beine, als hätte mir jemand mit einer Schrotflinte in die Oberschenkel geschossen. Der Puls reagiert hysterisch. Es ist ein Anstieg der ekligen Sorte. Tiefer Schotter, wenige Kurven. Mit schwerer Atmung kämpfe ich mich voran, gehe in den Wiegetritt, versuche einen Rest an Geschwindigkeit zu halten. 20er-Frequenz, wenn überhaupt. Ist das noch Fahren oder schon Stehversuch? 

 


Einen Augenblick lang wirkt der Berg uneinnehmbar. Herrlich, wenn ein kurzes Abflachen der Steigung Puls und Tempo stabilisiert. Es ist völlig klar: Das Bemühen, die Kurbel durch schieren Willen in die nächste Umdrehung zu zwingen, wird im Laufe des Rennens immer mal wieder krachend in sich zusammenbrechen. Sobald der Gegendruck der Pedale einen ausgehärteten Eindruck macht, heißt es abspringen. Karre in Schwung schieben, aufspringen und weiter. Singlespeeden ist Intensivsport. Wenn es gut läuft, verschmilzt man mit dem Moment. Wenn es schlecht läuft, bleibt alles feindlich: die Distanz. Die Steigung. Der Schotter. Doch noch fühlt es sich gut an. Der Schweiß suppt aus allen Poren. Ich höre, wie einer sagt, dass er gehört habe, wie einer gesagt habe, dass er gelesen habe, die Strecke sei 65 Kilometer lang und habe 1400 Höhenmeter. Der arme Irre in dem Bigfoot-Kostüm, denke ich.


Außenstehende werden sich fragen: Was soll das? Hunderte in Kostümen, die ohne Schaltung einen Marathon fahren, bei dem es hinterher keine Ergebnisliste gibt. Fast alle haben die Startnummer 69. Während die einen das Trödeln zelebrieren, kacheln die anderen mit Maximalpuls über die Piste. Das Sieger-Tattoo, das der Schnellste direkt nach dem Rennen gestochen bekommt, ist eine begehrte Trophäe. Also, was ist das? Spaß? Klar. Biken mit einem Plus an Muskelschmerz? Das natürlich auch. Doch es ist mehr. Es ist eine Gegenbewegung zum professionellen Rennsport und all seinen bedauerlichen Nebenwirkungen: Jedermann-Starter, die völlig kirre vom Testosteron-Pegel andere Fahrer aus dem Weg schreien. Biker, die vor lauter Selbstoptimierung keinen Blick mehr haben für das, was Biken so besonders macht: Erlebnis, Spaß, Draußensein. Die Single­speed-WM will das unbeschwerte Lebensgefühl der Anfangsjahre am Knistern halten. Deshalb das Bier, deshalb die Kostüme, deshalb das Schaltungsverbot. Damit es auch wirklich jeder kapiert. Die erste Singlespeed-WM wurde 1995 unter dem Namen W.H.I.R.L.E.D. ausgetragen – „Wasted Hairy Insanely Retro League of Enlightened Degenerations“, was auf Deutsch so viel wie „Sinnlose, haarige, durchgeknallte Retro-Liga der erleuchteten Degenerierten“ bedeutet, aber eigentlich unübersetzbar ist.

Es ist kurz nach 13 Uhr, als ich komplett leergekurbelt das Ziel erreiche. Jemand drückt mir eine Bierdose in die Hand, dann rolle ich mich groggy ins Gras. Das ist das Signal für die Glückshormone. Ein Euphorieschwall durchströmt mich, wie er einem nur in absolut perfekten Momenten vergönnt ist. Neben mir stolziert einer mit einem erigierten Riesenpenis auf dem Kopf vorbei. Im Gegensatz zu Jacquies Schniedel-Röckchen gestern wundere ich mich darüber kein bisschen. Wahrscheinlich Reizüberflutung.


PHILOSOPHIE 

 Die erste Singlespeed-Weltmeisterschaft wurde 1995 im kalifornischen Big Bear Lake als Gegenbewegung zum professionellen Rennsport ausgetragen, der damals zunehmend von der Macht des Geldes dominiert wurde. Seitdem werden die Singlespeed World Championships (SSWC) jährlich an wechselnden Orten ausgetragen. Die einzige Regel ist: Der Sieger bekommt die Medaille tätowiert. Wer nicht will, wird disqualifiziert. 2004 war Berlin Austragungsort. Der damalige Sieger Florian Eschenbach ist bis heute der einzige Deutsche, der eine Singlespeed-WM gewann. Bei den SSWC in Bend/Oregon (USA) siegten Payson McElveen und Rachel Lloyd.