Auf Nummer sicher
Sein Kampf gegen den Murks schien aussichtslos, dann kritzelte er in einer Kneipe einen Prüfstand auf eine Serviette. Die verblüffende Geschichte von Dirk Zedler, der sich stur in seinen Traum verbiss und nun ein Prüfinstitut für Fahrradtechnik von Weltrang besitzt.
Text und Fotos: Henri Lesewitz
Es gehört zu seinem Job, immer vom schlimmsten auszugehen. Selbst beim neuen Firmengebäude ist das mögliche Desaster mit einkonzipiert.
„Die Innenwände sind alle aus Holz“, moderiert Dirk Zedler den Rundgang durch sein Prüfinstitut an: „Sollte es die Firma irgendwann nicht mehr geben, kann alles zersägt und verfeuert werden.“ Zedler hält kurz inne, um sich am erschrockenen Blick seines Gegenübers zu weiden. Dann klärt er auf:
Im Moment sieht es nicht so aus, dass sich Zedler in diese Richtung Gedanken machen müsste. Draußen, vor der vollverglasten Fassade des Foyers, zerfasert das Schwarz der Restnacht gerade in frühmorgendliches Blaugrau. Der Tag dümpelt noch bleiern zwischen Dämmern und Erwachen, doch Zedler ist bereits putzmunter. Der Arbeitstag beginnt für ihn meist vor Sechs. Die Flut der Aufträge erlaubt kein Durchatmen. Seit die Firma 2010 zum Prüfinstitut umstrukturiert wurde, schicken Firmen aus Europa, Asien und Amerika im Tagesrhythmus Prototypen, um die Haltbarkeit testen zu lassen. Mittlerweile sind es etwa 500 Rahmen und 1200 Zubehörteile, die auf den Prüfständen des Instituts pro Jahr gequält werden. Dazu kommen die Unfallgutachten, von denen jährlich knapp 600 erstellt werden. Und nicht zu vergessen die Gebrauchsanweisungen für über 60 Fahrradmarken, die in bis zu 40 Sprachen übersetzt werden. Von den Millionenauflagen können selbst Bestseller-Autoren wie Sebastian Fitzek und T. C. Boyle nur träumen. Die Firma wächst und wächst. 23 Mitarbeiter sind es aktuell, weitere Stellen sind ausgeschrieben. Die Fahrradbranche hat das Thema Sicherheit für sich entdeckt. Und daran hat zweifellos auch Zedler seinen Anteil.
„Die Zeit von Trial and Error ist vorbei. Das Qualitätsbewusstsein ist in den letzten Jahren extrem gestiegen“, bringt Zedler die Entwicklung auf den Punkt, die Wörter mit S regionaltypisch zerzischelnd, wie das nun mal im Schwabenländle so üblich „ischd“.
Das Foyer ist eine Art Sicherheitsschleuse. Wer durch die nächste Tür will, muss eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben und sein Handy abgeben. Ein Schild weist auf striktes Fotoverbot hin. Die Prüfmethoden und Testlabore werden gehütet wie Zauberformeln, sie sind die DNA der Firma. Nichts fürchtet Zedler so wie geistigen Diebstahl. Um Besuchern dennoch einen Eindruck von der Arbeit des Instituts zu vermitteln, wurde extra ein Show-Labor eingerichtet, das zumindest besichtigt werden darf.
„Wir haben Wert drauf gelegt, dass sich das Thema Fahrrad im Gebäude fortsetzt“, sagt Zedler. Es ist eine Vorwarnung. Mit feierlicher Miene öffnet Zedler die Tür zum Bürogeschoss. Ach herrje! Die Augen sind mit der optischen Wucht erst mal heillos überfordert. Ist das tatsächlich ein Firmenflur oder eine Ausstellung? So, wie in einem Naturkundemuseum fossile Kajaks und ausgestopfte Uhus, zieren hier die urzeitlichen Vorfahren der heutigen Fahrräder die Wände. Auch wenn viele der Raritäten Leihgaben sind: Sie lassen erahnen, wie rigoros Leidenschaft und Job bei Zedler ineinanderfließen.
„In den ersten Jahren als Fahrrad-Sachverständiger mussten mich meine Eltern unterstützen, weil das Geld nicht zum Leben reichte. Aber ich habe dran geglaubt, weil das Fahrrad ein ultimativ geiles Produkt ist. Es ist Öko. Es macht Spaß. Und man kann keinen Krieg damit führen“, sagt Zedler.
Und dann erzählt er die Geschichte. Wie er während der Bundeswehrzeit den Sport für sich entdeckte, weil er keinen Bock auf das ständige Rumgesaufe hatte. Wie er nach dem Studium zum Maschinenbau-Ingenieur erfolglos einen Job in der Fahrrad-Branche gesucht hat. Wie er sich am 1. April 1993 in einem umfunktionierten Kinderzimmer vor einen geliehenen Computer gesetzt und beschlossen hat, ab sofort Fahrrad-Sachverständiger zu sein. Wie sie ihn bei der IHK belächelten, als er sich dort vorgestellt hatte. Wie er anfing, für das Rennrad-Magazin TOUR zu schreiben, um seine Miete bezahlen zu können. Wie er dort zusammen mit Robert Kühnen den ersten Prüfstand entwickelte.
„So richtig klischeemäßig. In einer Kneipe, hingekritzelt auf eine Serviette“, lässt Zedler die Flammen der Erinnerung knistern. Ein seliges Lächeln huscht auf seine Lippen. Was für eine verrückte Geschichte. Wie ein Surfer, der jahrelang im flau vor sich hin schwappenden Wasser auf die Welle wartet. Und dann plötzlich kommt sie herangerauscht, tsunamiartig.
Der Weg ins heilige Testreich führt über eine Betontreppe ins Untergeschoss. „Wall of Fail“ – Wand des Scheiterns – steht über der langen Reihe von Vitrinen, in denen zerborstene und übel verformte Teile ausgestellt sind. Kein Testschrott, sondern stille Zeugnisse echter Unfälle. Ein Gruselkabinett. Es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man die Geschichten dazu hört. Die des Jugendlichen, der mit dem Gesicht aufkam, nachdem bei der Landung nach einem Jump die Federgabel abbrach. Oder die des E-Bikers, dessen Akku beim Laden explodierte, was so verheerend war, dass nicht nur sämtliche Türen der Wohnung rausflogen, sondern auch der Notarzt kommen musste. Andere Geschichten sind eher skurril. Die des ekligen, verrottenden Stahlrahmens an der Wand. Der Besitzer hatte versucht, über die Herstellergarantie Ersatz zu bekommen. Doch Zedler fand heraus, dass es Schweiß war, der den Rahmen zerfressen hatte. Offenbar war das Rad beim exzessiven Rollefahren totgeschwitzt worden.
„Als Gutachter hat man mit vielen, schlimmen Geschichten zu tun, von der Querschnittslähmung bis zum Tod“, sagt Zedler und verharrt vor einer der Vitrinen. Es gebe keine absolute Sicherheit, alles könne kaputtgehen, fügt er hinzu. Schon eine zu fest angezogene Schraube könne ein Teil killen. Wütend mache ihn aber, wenn ein Problem bekannt sei, es der Hersteller aber ignoriere.
„Es gibt noch immer schwarze Schafe. Das Qualitäts-Level insgesamt ist aber sehr gestiegen“, resümiert Zedler und macht eine einladende Handbewegung in die Herzkammer des Instituts, ins normalerweise streng abgeschirmte und deshalb auch fensterlose Prüflabor. Nicht das für Show-Zwecke, sondern das Echte.
Es zischt, es klackert. Der Raum ist voller Prüfstände. Überall ziehen pneumatische Roboterarme an Rahmen, Gabeln oder Zubehörteilen. Computer zeichnen jede Bewegung auf, wie Pulskurven zucken die Linien über die Monitore. Ganz vorne zerren und drücken zwei Pneumatikarme an einem Mountainbike-Lenker aus Carbon. Das Ding verwindet sich so heftig unter der Kraft, dass es an die Schwünge von Adlerflügeln erinnert. Mal langsam, mal schnell. Dazwischen ziehen und drücken die Roboterarme auch entgegengesetzt. Durchmischtes Prüfen nennt sich das. Die Zedler-Art zu prüfen.
„Die Norm will erst das eine, dann das andere“, erklärt Zedler: „Aber kein Mensch fährt erst fünf Jahre im Wiegetritt und dann fünf Jahre lang Downhill.“
Zedler schaut kurz auf den Monitor, dann nimmt er den Lenker ins Visier. Alle 4000 Kraftwechsel kommt die Überlast, die einen Sturz oder einen üblen Fahrfehler simuliert – den schlimmstmöglichen Fall.
„Gleich geht’s los“, sagt Zedler, da tuen die Roboterarme auch schon ihren Dienst. Die Lenkerenden schwingen diesmal noch weiter nach oben und unten. Ein fieses Knirschen mischt sich ins Zischen der Pneumatik. Die Prüfmaschine, die jede Abweichung registriert, schaltet ab.
„Ah, jetzt ist er tot!“, ruft Zedler. Bruch bei der ersten Überlast. Keine Glanzleistung. Klassischer Fall, erzählt Zedler, wo sich der Hersteller über die angeblich zu harten Testbedingungen beklagen wird. Er führt zu einem anderen Prüfstand. Der Lenker darauf hat schon 593000 Lastwechsel weggesteckt. Seit drei Tagen zerren und drücken die Roboterarme an ihm herum, etwa 150 Überlast-Folterstöße inklusive.
„Carbon ist ein unglaublicher Werkstoff, wenn man ihn richtig einsetzt“, fasst Zedler die Vorführung druckreif zusammen. Als ehemaliger Redakteur weiß er, wie man Hochkomplexes zu verständlichen, mitschreibbaren Info-Happen verdichtet.
„Es ist faszinierend, mit welcher Leidenschaft sich die Erfinder schon immer dem Fahrrad gewidmet haben“, sagt Zedler schließlich: „Ich glaube nicht, dass sich daran je etwas ändern wird.“ Der Blick schweift andächtig durch den Raum. Nein, die Holzwände werden wohl so schnell nicht verfeuert werden. Deshalb sind sie auch aus nordischer Fichte gefertigt, einem besonders widerstandsfähigen Holz.
Zedler Institut