Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Steil nach oben

Als Sprungbrett für Nachwuchstalente hat das Magazin BIKE vor 20 Jahren das Junior-Team gegründet. Funktioniert das? Zu Besuch bei Team-Fahrer Dennis Krimmel, der ganz nach oben will.

Text und Fotos: Henri Lesewitz

Früher Schlecker-Filiale, jetzt Bike-Parcours: Dennis Krimmel knetet ins Obergeschoss.


Superhelden kommen nicht im Kreißsaal zur Welt. Nicht die aus dem Kino, Batman, Hulk, Catwoman, The Flash. Und auch nicht die der Sportarenen und Rennstrecken, Weltmeister, Olympioniken, Worldcup-Stars.

Dennis Krimmel, 16 Jahre jung, Schüler am Technischen Gymnasium Ehningen, ist weder das eine noch das andere. Doch gerade sieht es so aus, als könne er es eines Tages in die Liga der Sporthelden schaffen. Seit dem vergangenen Wochenende ist Dennis frisch gebackener Deutscher Cross-Country-Meister der U17-Klasse. Und wenn das so weitergeht mit den Siegen und Medaillen und er irgendwann tatsächlich zu den Besten im Worldcup zählt, dann wird die Welt den Ort sehen wollen, wo alles begann. Die Heldenschmiede. Wie meistens bei solchen Geschichten ist das kein gewöhnlicher Ort. Doch so einen vermutet keiner.

 


Es ist ein sonniger Freitagnachmittag. Dennis steht im Outfit des BIKE Junior Teams am vereinbarten Treffpunkt, dem Pascha Pizza & Döner-Imbiss im Zentrum von Münsingen.

„Um die Ecke ist es“, sagt er und führt zu einem leerstehenden Ladengeschäft inmitten der Innenstadt. Das Gebäude strahlt etwas Deprimierendes aus. Es wirkt wie ein Spukhaus. Der verwahrloste Look steht im interessanten Kontrast zu den schicken Fachwerkfassaden ringsum. Eine komplett in Lycra gehüllte Schaufensterpuppe, die mutterseelenallein und mumienhaft in der verstaubten Auslage steht, verstärkt den morbiden Eindruck. Dennis zückt den Schlüssel, dreht ihn im Schloss und zieht die Eingangstür auf.

„Das ist der alte Schlecker-Markt“, informiert er, während er sich am Sicherungskasten zu schaffen macht. Das Neonlicht flackert an. Der Raum ist riesig. Es befindet sich absolut nichts drin. Bis auf Europaletten, gezimmerte Sprungrampen und ein Haufen Wackersteine. Nach der ersten Irritation dämmert es einem. Das ist eine Indoor-Mountainbike-Welt. Die Paletten sind der Trail, die Rampen die Drops, und der Steinhaufen ist ein Rockgarden. Was für ein Ort! Als hätten ein Drogeriemarkt und eine Mountainbike-Rennstrecke eine heiße Liebesnacht miteinander verbracht. Seit der Schlecker-Pleite steht das Haus leer. Der TSV Münsingen darf es als Trainingshalle nutzen. Hier sei er das erste Mal Mountainbike gefahren, erzählt Dennis. Im November 2013. Als Siebenjähriger. Seine Mutter hatte von der Halle in der Zeitung gelesen. Und weil sie nach etwas suchte, wo sich Dennis nach der Schule austoben konnte, ging sie mit ihm hin.


„Ich hatte ein ganz einfaches Merida, und am ersten Tag lernten wir, wie man jemandem einarmig zuwinkt auf dem Rad“, lässt Dennis die Flammen der Erinnerung aufflackern. Er schmunzelt. Bei den Trainings der Größeren, die nach den Einheiten der Kids stattfanden, habe er immer gebannt zugeguckt und davon geträumt, einmal ein echter Rennfahrer zu werden. Neun Jahre ist das her. Und jetzt ist er Deutscher Meister. Man merkt Dennis den Stolz an, wenn er darüber redet. Wie hart der Titel erarbeitet ist, lässt sich erahnen, als Dennis anfängt, mit seinem Fully durch die Halle zu toben. Hochkonzentriert hüpft er auf dem Hinterrad, springt über Paletten und knetet die verwinkelte Treppe ins Obergeschoss hoch, auf der schmale Holzlatten eine Art Steg bilden. Runter und wieder hoch. Eine Mischung aus Geschicklichkeits- und Explosionskrafttraining. Das Drumherum scheint ausgeblendet.

 „Geil!“, grinst Dennis, als er endlich ausklickt. Er braucht einen Moment, bis sich der Atem wieder stabilisiert hat.

Cross Country gehört nicht zu den Themen, mit denen sich Kinder und Jugendliche üblicherweise beschäftigen. Schon gar nicht in den heutigen Zeiten, in der ganze Lebensbereiche zunehmend virtuell stattfinden und körperliche Anstrengung selbst von vielen Mountainbikern als schrecklich empfunden wird. Die Cross-Country-Szene ist klein. Aber sie hat eine gewaltige, weltweite Fan-Gemeinde. Den Stars wie Nino Schurter, Tim Pidcock und Jolanda Neff folgen Hunderttausende in den sozialen Medien. Die auf Red Bull TV übertragenen Worldcups waren Streaming-Hits. Gerade hat sich der Medienkonzern Warner Bros. die Übertragungsrechte gesichert. Auf Außenstehende mag Cross Country wirken wie eine besonders fiese Form von Selbstbestrafung. Wer es einmal erlebt hat, ob im Sattel oder hinter dem Flatterband, ist fasziniert davon. Von dieser maximalen Verdichtung aus Schinderei, Action, Kampf und Heldenmut. Die meisten Kids kommen über ihre Eltern zum Mountainbike-Sport. Diejenigen, die dem Zauber erliegen, bilden die kleine, aber feine deutsche Nachwuchsrennszene. Es geht um Spaß, ja. Es geht aber auch um Medaillen und Erfolge. Und wer auf dieser Ebene vorwärtskommen will, der braucht nicht nur Talent und Biss, sondern auch ziemlich viel Geld. Für Trainingssteuerung, Ausrüstung und die Fahrten zu den Rennen.

 


„Ich schätze, eine Saison kostet so um die 10.000 Euro“, überschlägt Konstantin Krimmel, der Vater von Dennis. Das schmucke Einfamilienhaus, in dem die fünfköpfige Familie lebt, lässt auf eine stabile wirtschaftliche Lage schließen. Der Vater von Dennis arbeitet als Industriemechaniker, die Mutter im medizinischen Bereich. Dennoch wäre der Sport ohne Unterstützung nicht zu stemmen.

 „Ohne das BIKE Junior Team wäre ich jetzt nicht Deutscher Meister“, sagt es Dennis freiraus. Zwanzig Jahre ist es her, dass im Kreis der BIKE-Redaktion beschlossen wurde, ein Team zu gründen, das Nachwuchstalente auf dem Weg in die Cross-Country-Welt unterstützt. Die Idee: Die Fahrer bekommen Material und Mentoren. Aktuell kümmert sich Bernd Sigel als Manager um alles, was mit der Rennsaison zu tun hat (siehe Interview auf Seite 68). Bernd ist ein drahtiger Kumpeltyp. Sein Sohn fuhr im Team, er ist fasziniert von Cross Country. Wenn er darüber redet, dann hat es fast etwas Philosophisches.

„Viele Kids spüren heute kaum noch Konsequenzen für ihr Handeln“, sagt Sigel. „Beim Cross Country spürst du sofort, wenn du überballerst. Zu sehen, wie sich Fleiß auswirkt und wie man durch eigenes Handeln Ziele erreichen kann, wirkt sich positiv auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung aus.“
Dennis kam als 13-Jähriger ins Team. Er war beim BIKE Junior Camp, an dem er 2015 teilnahm, als Talent aufgefallen. Doch was das Wissen zu Trainingsmethoden, Saisonplanung und Ernährung anlangte, tappte er damals noch völlig im Dunkeln. Keiner seiner Freunde fuhr Mountainbike. Er fuhr nach der Schule einfach aus Spaß drauflos. Sein Vater machte irgendwann den C-Lizenz-Trainerschein, um das Ganze strukturierter anzugehen.

 


„Du warst aber so zielstrebig, dass Du immer mehr trainieren wolltest, als ich gesagt habe“, grinst Papa Kons­tantin. Die Erfolge geben Dennis recht. In seinem Zimmer, das sich im Dachgeschoss des Hauses befindet, reihen sich die Pokale in mehreren Regalebenen. Am Kopfende hängt gerahmt das Shirt der Deutschen Nationalmannschaft, das er 2018 bei den internationalen TFJV-Spielen (ein Ländervergleich zwischen Frankreich, Deutschland, und Tschechien) in Frankreich trug. Fragt man Dennis nach weiteren Hobbys oder nach Partys, zuckt er gleichgültig mit den Schultern. Alles in seinem Leben dreht sich ums Mountainbiken. Dennis führt runter in den Keller, wo er sich einen Fitnessraum eingerichtet hat. In der Mitte steht eine selbst gebaute Beinpresse, sein ganzer Stolz.
„Keine Fotos“, bittet er. Die Konkurrenz, so die Erklärung, müsse ja nicht alle Trainingsgeheimnisse sehen. Es ist eine kleine, niedliche Szene, die perfekt illustriert, wie groß der Ehrgeiz ist, mit dem Dennis auf sein großes Ziel hinarbeitet. Aber anders geht es nicht. Superhelden werden durch Stromstöße oder mutierende Gene geboren. Ein Held in Lycra wird man nur durch Schweiß und Tränen.