Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Der 8. Kontinent

Waren das Zeiten, als Downhiller mit störrischen Gummipuffer-federungen zu Tal rasten. Wo sind nur all die schrillen Teufelskisten aus den Anfangsjahren geblieben? Reporter Henri Lesewitz bekam die Adresse zugeflüstert.

Text und Fotos: Henri Lesewitz

Ikonen-Sammler Sascha posiert vor der geheimen Halle.


Das einzig Auffällige ist die brüllende Unauffälligkeit. Es ist nicht dieses gewollt Schlichte, mit dem öffentlichkeitsscheue Bonzen ihre Prunkvillen als preis-leistungs-günstige Einfamilienhäuser tarnen. Es ist diese echte, vollendete Farblosigkeit, die nur durch jahrzehntelanges Verbleichen entsteht. Ein Überbleibsel aus besseren Zeiten. Ein ehemaliger Computer-Großhandel vielleicht. Oder eine Baufirma. Ein toter Ort, Beton im Endstadium. Verlassen, vergessen, sich selbst überlassen. So scheint es. Doch dann sieht man die mordsmäßige Stahlpanzerkette und den Oschi von Vorhängeschloss in der Morgensonne funkeln, die das Schiebetor zum Grundstück sichern. Blitzendes Metall, viel zu neu und martialisch für eine Bude wie diese. Und man ahnt: Das hier muss er sein. Der sagenumwobene, geheime Ort, den es offiziell gar nicht gibt.

Und da kommt er auch schon mit seinem Sportkombi um die Ecke geröhrt, auf die Minute pünktlich. Sonnenbrille, Hipster-Vollbart, die schwarze Baseball-Kappe tief in die Stirn gezogen. Herzliche Begrüßung, kurzer Small Talk. Dann eine letzte Instruktion, es ist ihm wirklich von Herzen wichtig.

„Alles, was hier drin ist, bleibt unter uns“, sagt er: „Für solche Bikes gibt es keine Versicherung.“ Doch selbst wenn: Es gibt Dinge, die sind mit Geld nicht zu ersetzen.

Die Welt der Mountainbike-Sammler ist abgeschottet wie Area 51. Einblick wird nur Vertrauten gewährt. Zu groß ist die Angst vor Langfingern, Neidern, Steuerbeamten. Der Handel mit frühen Kult-Bikes unterliegt längst den Gesetzen des Kunstmarktes. Ganz rare Stücke und Worldcup-Ikonen können durchaus fünfstellige Preise erzielen. Niemand soll wissen, wo sie aufbewahrt werden. Auch zu dieser Adresse hier führt weder ein Eintrag im Telefonbuch noch eine digitale Spur. Der Termin ist ein Privileg.

 

Hot Chili Bikes Sascha Der Vorraum darf fotografiert werden. Alles dahinter ist tabu.


Die Tür zur Halle schwingt auf. Das Neonlicht flackert die Dunkelheit weg. Die Augen sind heillos überfordert. Alles zieht die Blicke an: Autos der grell gestylten, windschlüpfrigen Sorte, die man vom Autoquartettspiel „Turbo-Asse“ kennt. Die riesige Pfefferschote unter den Deckenbalken, einst Messe-Deko der ver­blichenen Custom-Schmiede Hot Chili. Kisten voll mit Rohrsätzen und Dämpferzubehör. Dazwischen ein paar prähistorische Downhill-Boliden, doch das ist nur ein Vorgeschmack. Es hat etwas Surreales, den langen Flur entlangzuschreiten und in den ehemaligen Büros all die Klassiker zu sehen, die Technikfetischisten in den frühen MTB-Jahren den Verstand raubten. Es ist die wohl größte Ballung ikonischer Downhill-Bikes, die es gibt. Ein Weitwinkelfoto mit sämtlichen Stars der Neunziger, hier wäre es möglich. Man kann sein Reporterglück kaum fassen. Die Entdeckung des achten Kontinents! Dann der Schock. „Keine Fotos bitte!“ Das nun folgende Feilschen, was veröffentlicht werden darf und was nicht, erinnert in seiner Zähigkeit etwas an die Brexit-Verhandlungen. Adresse? Bleibt tabu, klar. Bundesland? Besser nicht. Name? Ja, okay, aber nur den Vornamen: Sascha. Die Anzahl der Bikes? Bitte nicht schreiben! Wirklich keine Fotos, nicht mal ein einziges, wenigstens von dem Raum mit den ganz vielen Bikes? Bittebittebitte! Sascha bleibt hart. Ein Einbruch ist der größte Horror, den er sich vorstellen kann. 

Fotos einzelner Bikes vor der Halle seien okay, lässt er sich schließlich erweichen. Man solle aber schauen, dass das Gebäude nicht zu erkennen sei. Der Alptraum eines Reporters – so in etwa sieht er aus. Ein gleichwohl bitterer, aber auch süßer Moment.


Am 14. September 1990, einem Freitag, war der US-Amerikaner Greg Herbold – wegen seiner wallenden blonden Mähne wahlweise „Hairball“, „H-Ball“ oder auch „HB“ genannt – in Durango/Colorado zum ersten WM-Titel in der Geschichte des Mountainbikens gerast. Um sein Stahl-Hardtail für die widerborstige Strecke zu optimieren, hatte er eine dieser neuen Federgabeln sowie ein Hinterrad aus windelweichen Kevlar-Halbschalen eingebaut und die Shimano-Kurbeln bis zum Gehtnichtmehr abgefräst – damit das Flexen die Fahrbahnstöße neutralisiert. Der einzige Aufprallschutz, den H-Ball trug, waren eingenähte, hauchdünne Schaumstoff-Pads an den Seiten seiner Lycra-Hose. Sein weiß-blaues Miyata Ridge Runner, das er selbst mal halbironisch als „Fullsuspension“ bezeichnete, gilt als erstes speziell konzipiertes Downhill-World­cup-Bike. 

Und dann ging es los. Die Kurse wurden härter, die Bikes immer weicher. Die Fahrer versprachen sich von Federungen eine neutralisierende Wirkung, doch die Funktionsweise unterschied sich oft kaum von der eines Flummis (Wörterbuch: „Springender, kleiner Ball aus elastischem Vollgummi“). Auf der Suche nach besseren Lösungen wagten sich die Tüftler bis tief hinein in aufmüpfigste technische Randgebiete. Das ästhetische Empfinden damals war eh relativ schmerzfrei. 

Es war der Beginn der Federwegsepidemie. Mitte der Neunziger sahen Downhill-Bikes plötzlich aus wie die Schwippschwager von Motocross-Maschinen. Die ganz Verwegenen wie Shaun Palmer und Anne-Caroline Chausson flutschten damit durch die Flatterbandgassen wie Megabits durchs Glasfasernetz. Es war die Zeit vor Freeriden, vor Enduro, vor Slopestyle. Alles, um das es ging, war nackter, purer Speed.


 Das 1996er-Hot-Chili-Warp-9.3 – eins von nur fünf je gebauten – das Sascha als das bedeutendste Bike seiner Sammlung bezeichnet, symbolisiert die finale Abspaltung von konventioneller Mountainbike-Technik.

„Seitdem geht es eigentlich nur noch um Feinheiten“, sagt Sascha. Er habe nie bewusst angefangen zu sammeln, fügt er hinzu. Er habe mit den Bikes nur dieses prickelnde Gefühl der Anfangsjahre konservieren wollen. Als einer, der zwei Jahrzehnte in der Rennszene verbracht hat, verfügt er über reichlich Kontakte. Gelegenheiten zum Kauf einer Rarität gibt es immer wieder mal. So kam ein Bike zum anderen. Und irgendwann ist die Sammelleidenschaft halt schleichend eskaliert.

Sascha mit Tret-Chopper.

 „Alleine das Luftaufpumpen ist inzwischen richtiger Stress. Das dauert etwa drei Stunden“, grinst Sascha. Er kämpft sich gerade mit einer Taschenlampe durch die finsteren Weiten des Dach­bodens. Laufräder, Gabeln, Rahmen, Bikes. Zwischendrin, wie Skulpturen, mannshohe Reifentürme. Ein hammermäßiges Fotomotiv wäre das. Schade, wirklich schade. Er habe sich jetzt eine Lösung für das Problem überlegt, sagt Sascha, während er in einer Kiste mit Dämpfern herumfunzelt.

„Ich werde einen Luftschlauch verlegen mit Ableitungen zu jedem Laufrad. Dann kann ich alle Bikes gleichzeitig mit einem Kompressor aufpumpen.“ Ein seliges Lächeln huscht über seine Lippen.

 Es ist später Nachmittag geworden. Sascha schließt die Halle ab, dann verrammelt er das Schiebetor. Das Röhren des Sportkombis ist noch nicht ganz in der Ferne verklungen, da scheint es, als hätte sich dieser unfassbare Ort mit den ganzen Ikonen einfach aufgelöst. Nur die mordsmäßige Stahlpanzerkette verrät, dass das alles eben kein Traum war.

Sascha's heiße Kisten

American Eagle 1996


Das Teil duckt sich über den Asphalt wie eine Enduro für Führerscheinlose. Es ist das Bike, mit dem Deutschlands einstige Star-Bikerin Regina Stiefl die ’96er-Worldcup-Saison bestritt. Jahrelang hatte die Grainauerin die Rennszene dominiert. Doch mit dem American Eagle kämpfte sie vor allem um den Anschluss an die Weltspitze. Beim legendären World­cup in Kaprun reichte es nur für Platz acht. Im Jahr zuvor hatte sich Stiefl an selber Stelle mit ihrem Rocky Mountain noch den Worldcup-Gesamtsieg geholt. Von der Firma American Eagle stammt übrigens auch nur der Rahmenaufkleber. Kenner sehen es sofort: Das Bike ist ein Techno der Schmiede Vario. Die Firma aus Grenoble brutzelte Mitte der Neunziger die spektakulärsten Downhill-Rahmen. Als revolutionär galt der verstellbare Sitzdom, mit dem man den Sattel stufenlos nach hinten oder in Uphill-Position schieben konnte. Die Sitzbank war eine Mode der Zeit, auch Scott hatte sein Worldcup-Modell mit einem ähnlichen Sofa ausgestattet. In Anbetracht dessen, dass drei Jahre zuvor noch 80 Millimeter Federweg das Maß aller Dinge waren, wirkten die 150 Millimeter des Vario fast schon monströs. Sascha kam durch eine Verkettung glücklicher Umstände an das Rahmen-Set. Leider fehlte die Sitzbank. Diese hier ist ein Eigenbau, die noch final ausmodelliert werden muss. Das Bike hat Sascha weitgehend originalgetreu aufgebaut: Sachs-Schaltung, Hope-Pro-Scheibenbremse hinten, Magura-HS22-Felgenstopper vorne. Stiefls Rond-WP-Gabel? Leider unauftreibbar. Deshalb eine Fimoco.


Mountain Cycle 1993


Man hätte auf einem feuerspeienden Drachen reiten müssen. Aber selbst dann hätte man nicht für solche Furore gesorgt wie mit dem San Andreas der US-Schmiede Mountain Cycle. Selbst normale Federgabeln galten damals noch als Ausgeburten der Hölle. Da kann man sich die Schockwirkung vorstellen, die ein vollgefedertes Bike mit Upside-down-Gabel, Scheibenbremsen und Monocoque-Rahmen aus Aluminium auslöste. Das Design hatte sich Mountain-Cycle-Gründer Robert Reisinger bei Motorrädern abgeguckt.
So brachial die optische Erscheinung war, so sehr war das Rad ein Schaf im Wolfspelz. Der After-Shock-Hinterbau von Saschas Ur-Version hat gerade mal 50 Millimeter Federweg. Gewicht: 12,5 Kilo.


Beasty Bikes 1995


Eigentlich verdiente Maschinenbau-Ingenieur Andreas Heimerdinger sein Geld mit Antennen, aber das war ihm irgendwie zu langweilig. Wie praktisch, dass sein Kumpel Wildwasser-Kajaks aus Glasfaser baute. Die Infrastruktur der Firma eignete sich perfekt zum Rahmenbau, und so begann Heimerdinger, Carbon-Rahmen aus laminierten Halbschalen zu fertigen. Handmade in Frankfurt/Main. Die Beasty Bikes waren die ersten voll aus Kohlefaser gebauten Downhill-Fullys. Das Modell DH unterschied sich vom CC durch einen Zentimeter mehr Federweg. Das war es auch schon im Wesentlichen. Insgesamt federte die Downhill-Version 100 Millimeter am Heck – ordentlich Pedalrückschlag wegen des hohen Drehpunkts inklusive.


Manitou DH 1995


In der BIKE-Ausgabe 1-2/1994 kam es zum großen Showdown: Yeti A.R.C. vs. Manitou DH – damals die schnellsten Downhill-Bikes auf dem Planeten. Mit dem Manitou mischte Jürgen Beneke gerade den Worldcup auf. Als Hinterbau diente eine modifizierte Elastomer-Federgabel – ohne Dämpfung. Vorne verzweifelte das ebenfalls dämpferlose Original mit läppischen 60 Millimetern Federweg an den Steinen und Wurzeln der Teststrecke. Ein Zeugnis davon, wie unfassbar todesverachtend Beneke damals zu Tal rauschte. „Überzeugende Fahreigenschaften und ein enormes Sicherheitspotenzial“, waren sich die BIKE-Tester dennoch einig. Das Manitou von Sascha ist das Nachfolgemodell – weitgehend baugleich, aber mit Öldämpfung.


BH 1995


Auch das B1 ist – wie Regina Stiefls American Eagle – ein umetikettiertes Vario. Marcus Klausmann kachelte damit auf Platz drei beim Worldcup in Kaprun. Gut Informierte erinnern sich, wie er damals nach einem spektakulären Double-Stepdown im Zielhang einschlug, was dem B1 nichts weiter als ein müdes Federwegsschmatzen entlockte. Das Teil ist ein Einzelstück. Die verstellbare Federgabelbrücke hatte sich Klausmann ausgedacht und für 1500 D-Mark fräsen lassen. Es war die Zeit, als Michelin zu jedem Rennen einen Reifenschneider schickte, der die Stollen nach den Wünschen der Profis zurechtstutzte. Die Gold-Medaille am Lenker stammt von der Deutschen Meis­terschaft und war ein Geschenk von Klausmann.


Hot Chili 300 2002


Nachdem alle Streckenrekorde geknackt, alle Schlüsselbeine gebrochen und alle großen technischen Revolutionen ausgefochten waren, war die Szene bereit für eine Reizsteigerung. Dem ersten, zarten Aufkeimen der Freeride-Bewegung folgte ein Boom suizidal anmutender Stunt-Action. Sprünge über Klippen, waghalsige Schussfahrten – Hauptsache gaga, Hauptsache extrem. Und immer lief eine Kamera, das nächste New-World-Disorder-Video sollte die Szene schließlich noch mehr erschaudern lassen als der Vorgänger. Der US-Amerikaner Josh Bender schaffte es schnell an die Spitze der Durchgeknallten. Mit einer Mischung aus Mut und Todes-verachtung hüpfte er von scharfkantigen Felsen in gähnende Leere, um nach längerer Flugphase irgendwo stumpf aufzuprallen. Dafür waren selbst Hardcore-Downhill-Bikes nicht gemacht. Wenn Bender landete, verhärtete sich jedes Fe-derelement bis zur Endstarre, was jedem Rahmen und jeder Gabel den Garaus machte. Sponsor Marzocchi baute Bender deshalb eine 300-Millimeter-Gabel. Federweg in Übergröße. Es existieren nur Prototypen. Einer gelangte über verschlungene Pfade zu Sascha. Der dazugehörige Hot-Chili-Rahmen war einst für eine Messe speziell für das 300-Millimeter-Biest geschweißt worden und bietet am Heck sogar 320 Millimeter auf. Sascha ist mit dem Bike vor Jahren mal den 601er am Gardasee gefahren. „Prinzipiell geil“, lässt er die Flammen der Erinnerung knistern: „Selbst bei kopfgroßen Steinen: einfach den Lenker festhalten!“ Kurz: die maximale Verweichlichung.