Gerührt, weil geschüttelt
Spindeldürre Stahlrohre, null Federung, lasche Bremsen: Mit dem Siegerrad der BIKE-Erstausgabe holperte unser Autor die Teststrecke von damals ab. Beim Ritt vom Tremalzo-Pass blickte er mit jäh gestocktem Atem in den Schlund der Hölle. Jesses, war das herrlich!
Das muss man erst mal schaffen, geiler auszusehen als der Tremalzo-Pass. Den rechten Fuß im Pedalkörbchen, den linken auf dem grüngrauen Grasteppich neben dem Rifugio Tremalzo, stehe ich da. Bereit loszupreschen, im Moment aber einfach nur still atmend. Die Hände auf den Lamellengriffen, den Hintern auf einem Kloben von Sattel. Ankommen im Jahr 1989.
Da sehe ich die Linse auf mich gerichtet. Die ganze Zeit lang hatte der Hüttenwirt mit seinem riesigen Stativ-Fernrohr die Felswand oben am Tremalzo-Tunnel abgeschwenkt. In Ergötzung der prachtvollen Kulisse vermutlich. Doch nun hat er etwas Krasseres erspäht: mich. Seit einer gefühlten Minute hat er mich jetzt schon im Visier. 16fache Vergrößerung, 30fache, keine Ahnung, ich stehe keine fünfzig Meter entfernt. Man kann die Irritation des Hüttenwirts förmlich spüren. Ich sehe aber auch so was von arschcool aus. Es ist der eisenharte Neonschocker-Look der Anfangsjahre. Alleine auf meiner Lycra-Leggins flimmern sieben Farben. Maltaorange. Acidgelb. Glibbergrün. Erikaviolett. Kyotopink. Kreischrot. Hämatomblau. Insgesamt sind es 22 Farben plus Mischtöne, die auf meinem Outfit zu einem einzigen, brüllenden Multibunt zerfließen, als wäre ich zwischen die Fronten einer Paintball-Schlacht geraten. Muss so sein. So sah man halt aus.
Es ist der originale Style zum Rocky Mountain Blizzard, mit dem ich gleich den Höllenritt runter nach Riva wagen will. Damals, Ende der Achtziger, waren Biker modemäßig ein bisschen verwirrt. Alles war neu und unergründet. Keiner hatte einen blassen Schimmer, wie genau das geht: Mountainbiker sein. Das Farbengeflimmer war Ausdruck radikalen Andersseinwollens. Progressive, aufmüpfige Lebenseinstellung. Fun-orientiert. Maximales Anti-Schwarz/Weiß, damit es auch wirklich jeder kapiert. So viele Farben hat der Hüttenwirt garantiert noch nie auf einmal gesehen.
Angestarrt per Fernrohr bekomme ich eine erste Ahnung davon, mit welcher Wucht das Mountainbiken in die Achtziger schepperte. Wenn ich jetzt schon so viel Aufmerksamkeit verursache, wie war das erst damals? Es war die Zeit, als die MTB-Welle aus Amerika so langsam auch nach Europa schwappte. Am Zeitungskiosk gab es noch kaum was zum Thema. Aber das wollte Uli Stanciu, der Chefredakteur des SURF-Magazins, ändern. Die große Frage war: Wie testet man Bikes? Als Wassersportexperte hatte Stanciu null Komma null Vorstellungen. Also reiste er zum Grundig-Cup nach Davos und heuerte mit Jürgen Eckmann und Jürgen Sprich die Top-Stars der deutschen Szene an. Der Südtiroler Thomas Widmann, die österreichische Nachwuchshoffnung Andreas Winzely und
Und jetzt stehe ich hier. Dreißig Jahre später. Selber Ort. Gleicher Lycra-Fummel. Rocky Mountain Blizzard. Es ist der Versuch, mich für einen Tag zurückzukatapultieren ins aufregende, wilde Damals. Zurück auf Start. Vom Rifugio hoch zum Tremalzo-Tunnel, das legendäre Schotterband runter zum Passo Nota und dann über den Passo Rocchetta zum Panorama-Dörfchen Pregasina, und von dort aus runter nach Riva zum Gardasee. Die originale Teststrecke von Stanciu und seinen Mannen. Knapp 300 Meter hoch und 2000 runter. Eine Abfahrtsorgie der allerfeinsten Sorte mit Bikes moderner Bauart. Mit einem Rocky wie meinem: eine Expedition.
Das Losfahren stellt erste Herausforderungen an die gewohnten Bewegungsabläufe. Einklicken ist nicht. Man muss mit der ganz vordersten Schuhspitze auf das Pedal stupsen, um den Fuß dann – in dem einen Sekundenbruchteil, in dem das Pedal in die perfekte Stellung geschwungen ist – mit Schmackes ins Körbchen zu stoßen. Riemen festzurren. Und los. Angenehm ist das, mit dem Blizzard den Wolken entgegenzukurbeln. 150er-Vorbau, waagerecht nach vorn. Schon im Testartikel wurde die „flache“ Sitzposition thematisiert, dabei war diese in jenen Jahren bereits standardmäßig der von Triathlon-Rädern recht ähnlich. Packt man das Blizzard an den Hörnern, ist ein Aufbäumen des Vorderrads unmöglich. Der kleinste zur Verfügung stehende Gang (24:28) stellt rigorose Anforderungen an die Beinmuskulatur. Aber so sind zumindest die Schweißausbrüche garantiert, für die ein MTB verdammt noch mal zu sorgen hat. Alles gut. Einzig die harten Stöße, die die Starrgabel als herzliche Grüße vom Schotter an mich weiterleitet, lassen erahnen, was mir bergab bevorsteht. Die Schulterschmerzen. Die Angstmomente. Das Hoffen, das Ganze nur irgendwie zu überleben.
Das Licht blendet, als ich aus den Tiefen des Tremalzo-Tunnels zurück in die Sonne kurble. Höchster Punkt, andere Seite des Berges. Die, auf der sich das berühmte Kurvenband die Felsflanke entlangwindet. Superstar aller Serpentinen. Schotter-Ikone. Vor hier aus sind es etwa 2000 Tiefenmeter bis Riva. Die erste Kurve ist noch nicht erreicht, da ist mein Nervensystem bereits überstrapaziert. Das Blizzard scheint jeden Schotterstein, den die Reifen berühren, in einen riesenhaften Felsbrocken zu verwandeln. Der Teufel scheint in die Karre gefahren zu sein. Der Lenker zuckt in meinen Händen, als würde ich versuchen, einen stampfenden Schiffsmotorkolben festzuhalten. Die fiesen Gesteins-Oschis, denen die Starrgabel nichts als hysterisches Gehüpfe entgegenzusetzen hat, jagen mir jedes Mal einen riesigen Schrecken ein. Ich bin schon eine Weile unterwegs, befinde mich aber immer noch auf der Startgeraden, woraus sich schließen lässt, dass die Geschwindigkeit nicht allzu hoch sein kann. Doch es fühlt sich irre schnell an.
Ich habe wahnsinnig Schiss, die Kontrolle zu verlieren. Der scharfkantige Schotter würde die Styropor-Schüssel, die ich auf dem Kopf trage, wahrscheinlich einfach spalten. Eine Sorge, die durch den Gedanken an die rustikalen Felgenbremsen noch verstärkt wird. Die Bremswirkung ist interessant enttäuschend. Außenstehende würden das Ganze wahrscheinlich für eine bizarre Form von Selbstbestrafung halten: Ein in schrilles Lycra Gehüllter, der festgeschnallt an ein strörrisches Uralt-MTB, dem Abgrund entgegenbockt. Es ist die dieselbe Schotterpiste, die ich schon unzählige Male hinabgerast bin. Doch diesmal fühlt sie sich böser an, rauer, höllischer. Ich habe eine geile Angst!
Die psychische Anspannung ist wie ein Kärcher fürs Gehirn. Jede Gehirnzelle ist maximal durchblutet. Die Muskelfasern ja sowieso. Man hat keine Zeit für verschwurbelte Gedanken. Nur für das Wesentliche. Wann bremsen? Wann schalten? Wie das Gewicht verlagern? Das Blizzard lässt den Fahrer im roten Bereich garen, aber der Eindruck ist etwas verzerrt. Damals waren die Reflexe weder Vollfederungen noch hydraulische Scheibenbremsen gewohnt und entsprechend unverkümmert. Im Vergleich zu einem Cyclocrosser war ein MTB mit 2,1er-Stollenbereifung Komfort pur. Mittlerweile lassen viele die Arbeit von ihren Bikes erledigen. Fahrwerke neutralisieren Stufen und Steine, Scheibenbremsen den gelegentlichen Überschuss an Tempo. E-Bikes verzwergen Gebirge oder ebnen sie gar ganz ein, je nachdem, ob man Eco- oder Boost-Modus anklickt. Alles ist gedimmt, ja fast schon gastronomisch. Die Höhenmeter, der Gipfel, der Geschwindigkeitsrausch bergab – alles wird von der Technik ein Stück weit serviert.
Es ist später Nachmittag, als ich komplett durchgeschüttelt den Gardasee erreiche. Alles tut weh. Der Nacken. Die Hände. Die Beine. Der Po. Geschafft zerre ich die Füße aus den Pedalkörbchen. Dastehen, den Puls beruhigen. Ankommen im Jahr 2019. Was für ein großartiger, unerwartet perfekter Moment! Ein Motorrad-Urlauber guckt kurz, wendet sich aber sogleich wieder dem Bestaunen des Gardasees zu. Interessante Szene. Geiler auszusehen als der Gardasee, das ist offenbar selbst mit einem brüllbunten, vollgeschwitzten Neunzigerjahre-Schocker-Look unmöglich.
Die Story wurde 2019 veröffentlicht und entstand aus Anlass des 30. Jubiläums des Magazins BIKE.