Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Blechspielzeug

Thomas Lukasczyk war fasziniert vom Fliegen. Also baute er sich ein Flugzeug. Als er das Mountainbiken entdeckte, ging er ebenso strikt vor. Sein Hardtail aus Alu-Blech ist ultraleicht, megarobust und technisch mit einem Airbus verwandt.

Text: Henri Lesewitz / Fotos: Ulrike Lukasczyk


Auf des Triumphgefühl folgte erst mal blanker Horror. Thomas Lukasczyk (47) kann es heute selbst kaum fassen, dass er sich nach dem Zusammenheften seines Custom-Rahmens in einen Zombie verwandelt hat. In den fiesen Blutsauger Pinhead aus dem Splatter-Klassiker „Hellraiser – das Tor zur Hölle.“

„Die Heftnadeln, die aus dem Rahmen ragten, erinnerten mich an das Filmplakat mit den Nägeln im Zombie-Kopf. Da kam mir die spontane Idee zu dem Quatschfoto“, lacht Thomas. Es ist ein herrliches Bild. Wie er da in der Garage sitzt, das Gesicht kalkweiß geschminkt, der Rahmen martialisch an den Schneeketten des Familienautos baumelnd. Ein Motiv, das die Leidenschaft und die Exzentrik des Projekts nicht besser illustrieren könnte. Das Bike sieht aus wie aus einer anderen Welt. „Ich wollte einfach mal die Grenzen ausloten“, sagt Thomas, der wahrscheinlich erste Mensch, der ein Mountainbike in Flugzeugbauweise auf die Räder gestellt hat.

Wer Thomas zu dem Bike befragt, wird sofort und ohne Vorgeplänkel in die Welt der Physik hineingesogen wie Luft in eine Düsenjet-Turbine. Begriffe wie Steifigkeitsspannung, thermischer Verzug, Streckgrenze, Bruchdehnung und Ermüdungsresistenz wirbeln ihm nur so über die Lippen. Wer nicht trittsicher ist in höherer Physik, ist gleich raus. Was aber so oder so schnell klar wird: Das Bike wurde nicht aus Gründen des Auffallenwollens so extravagant konzipiert, sondern aus technischer Raffinesse. Und es ist eine optische Täuschung. Was aussieht wie ein schwerer Metallklotz ist in Wirklichkeit ein Leichtbauwunder.

 „Wie ein Airbus. Der wirkt auch massiv, ist aber bis ins kleinste Detail gewichtsoptimiert“, erzählt Thomas.

Thomas in seinem selbst gebauten Propeller-Flugzeug


Die Geschichte von Thomas und seinem Nieten-MTB ist unglaublich. Wo sie genau ihren Anfang nahm, lässt sich nicht exakt sagen. In seiner Zeit als „Flugplatzkind“, wie Thomas die Jahre nennt, in denen er als Dreikäsehoch inmitten der lokalen Kleinfliegerszene aufwuchs? Da schlachtete er als gerade mal Fünfjähriger einen alten Schleppwagen für Segelflieger aus. Oder war der Urknall das blaue Motorflugzeug, das Thomas nach dem Ingenieursstudium in drei Jahren Bauzeit selbst erschuf, um damit unter anderem nach Helgoland zu fliegen? Definitiv aber nahm das Projekt an jenem Morgen 2019 seinen Lauf, als er nach 25-jähriger Fahrradabstinenz mit seinem alten, angerosteten Trekkingbike Richtung Arbeit strampelte. Thomas ist Optimalist. So werden in der Psychologie Menschen genannt, die sich auf fast schon spirituelle Weise in eine  Sache stürzen. Ganz oder gar nicht. Und wenn, dann als 360-Grad-Erlebnis. 

So hatte er sein Flugzeug geschaffen. Und so wollte er nun das perfekte Fahrrad kreieren. Noch während er vor sich hin strampelte, fügte sich in seinem Kopf das Traum-Bike Puzzlestück für Puzzlestück zusammen.

 „Daheim habe ich alles auf ein Blatt Papier gemalt, ein bisschen rumgerechnet und dann direkt losgelegt“, erinnert sich Thomas.

Dass es kein 08/15-Teil werden würde, war klar. Schon, weil Thomas anders denkt als die meisten. Das Rad, das er sich vorstellte, sollte ein Mountainbike sein. Möglichst leicht. Möglichst robust. Eine Kilometerfräse, die allen Belastungen standhält. Der Rahmen sollte wie der Rumpf eines Flugzeugs sein: viel Luft, ummantelt von hauchdünnem, hochstabilem Alu-Blech.
Die Puzzle-Teile aus denen der Rahmen besteht.

„Carbon oder Faserverbund finde ich nicht ideal für den Fahrradbau“, begründet er. Die weitere Erklärung ist wieder gespickt mit Hardcore-Physik. Klassisches Alu, spannt Thomas schließlich den Bogen zu seiner Speziallösung, komme für ihn aber auch nicht infrage. Zum Schweißen sei man auf Legierungen angewiesen, die nicht die besten Festigkeitseigenschaften hätten. Die perfekten Legierungen wiederum würden sich nicht zum Schweißen eignen.

Die Lösung bestand darin, die Verbindungen zu nieten. Wieder schwirren Fachbegriffe wie ein Schwarm Bienen herum. Zyklische Belastung. Bruchdehnung. Elastizitätsmodul. Zugfestigkeit. Als Nicht-Ingenieur versteht man nur Bahnhof. So viel aber schon: Trotz minimalen Materialeinsatzes wird ein maximal solider Rahmen möglich. Thomas grinst: „Im Prinzip ist das alles Alu-Folie.“

Thomas liebt es mit Druck über die Trails zu pressen.


Als die in USA bestellten Superbleche ankamen, bäumte sich das erste Problem auf. Wie würde es gelingen, sie in die nötige Profilform zu biegen? Die hochfeste Legierung war verhältnismäßig spröde. Mit Hilfe einer lokalen Schlosserei und deren CNC-Kantbank gelang es schließlich, allerdings erst nach mehreren Rückschlägen. Die Wochen darauf verbrachte Thomas bis spätnachts im Keller. Bleche schneiden. Feilen. Anpassen. Nietlöcher setzen. Schließlich die finale, feierliche Zeremonie: das Zusammenfügen der Einzelsegmente mit Luftfahrtnieten. Eine meditative, aber anspruchsvolle Prozedur.

 „Mein Zellenbau-Meister hat mal gesagt: Nach 1000 Nieten weißt Du, wie es geht. Nach 10000 Nieten kannst Du es“, lacht Thomas.

Tage später war das Bike komplett. Die Waage zeigte 10,5 Kilo an. Viel wichtiger aber: Die Karre ging ab wie Schmitz’ Katze.

Thomas fuhr immer öfter. Er wurde fitter. Er wurde kilometerhungriger. Wie bei den technischen Details zum Rahmen, so kann er auch hierzu die exakten Zahlen abfeuern. 20000 Kilometer. 500000 Höhenmeter. 16 verschlissene Reifen. Zwei zerstörte Hinterradfelgen. Sechs Stürze.

 „Eine maximal materialverachtende Malträtierung“, fasst er die zwei Jahre mit dem Bike zusammen. Thomas war begeistert von dem Bike. Doch als Optimalist spürte er, dass das Projekt „MTB-Bau“ mit der bestandenen Bewährungsprobe keineswegs abgeschlossen, sondern ganz im Gegenteil, erst am Anfang war. Die neue Version sollte noch formvollendeter, noch leichter, noch besser werden. Jedes Gramm sollte zählen.

Thomas mit Projekt Nummer eins.


„Wenn dir nach einem 30 Minuten langen Strava-Uphill-Segment zwei Sekunden zur Bestzeit fehlen, dann kannst du ganz leicht ausrechnen, wie viele Gramm da zu viel unterwegs waren.“ Die Magie von Tempo und Laktat hatte Thomas voll erfasst. 25 Jahre lang war er kein bisschen Rad gefahren. Jetzt kannte er sogar Strava. 

Wieder bestellte Thomas in den USA teure, hochfeste Spezialbleche. Wieder ging er in die lokale Schlosserei, um die Rohlinge in Form biegen zu lassen. Wieder verbrachte er Nacht für Nacht im Keller. Schnitt. Feilte. Bohrte. Setzte Heftnadeln. Schor sich die Haare, schminkte sich kalkweiß, um gruselig auszusehen, und posierte mit dem Provisorium für das Zombie-Foto. Und nietete schließlich alles akribisch zusammen. 1400 Gramm zeigte die Waage für das Chassis an, das auch wesentlich filigraner und detailverliebter aussah als die erste Version.

Das Setzten der Nieten erfordert Präzision und Erfahrung.


Damit begann Teil 2 des Projekts: Die Auswahl der Teile. Nur konsequent durchgezogener Leichtbau würde das Potenzial wirklich ausreizen. Thomas hatte sich in den Kopf gesetzt, dass das Bike unter acht Kilo wiegen sollte. Gleichzeitig sollte es aber auch keinen Deut weniger hardcore-tauglich sein als die Ur-Version. Ein Dilemma, das Thomas schlaflose Nächte bescherte. Besonders die Laufräder raubten Zeit und Nerven. Die Biester schienen ihn regelrecht herauszufordern. Kein Wunder. Sie sollten nicht mehr als 1000 Gramm wiegen. Aber mit den unzerstörbaren Naben von Chris King aufgebaut sein. Thomas gab jede nur erdenkliche Kombination aus King-Naben, Felgen, Speichen und Nippel in eine Excel-Tabelle, doch die Summe, die das Zahlenwerk ausspuckte, lag jedes Mal drüber.

Es war zum Verzweifeln. Er hatte es geschafft, ein Flugzeug zu bauen und damit nach Helgoland zu fliegen. Und nun zeigten ihm ausgerechnet Mountainbike-Laufräder die Grenzen des Machbaren auf. Dabei hatte er sich schon nicht für 29er-Felgen, sondern für 27,5er entschieden. Weichgekocht von der endlosen Suche nach noch leichteren Nippeln und Felgen sowie der ständigen Hin- und Herrechnerei entschied sich Thomas schließlich für einen Kompromiss. Die Naben der italienischen Manufaktur Carbon Ti waren vielleicht nicht ganz so ikonisch wie die des US-amerikanischen Teile-Gotts Chris King. Doch sie waren leicht. Und der aggressiv-heisere Sound des Freilaufs hatte eine ähnlich stimulierende Wirkung auf die Glückshormone.

Im Sommer 2022 war das Bike schließlich fertig. Hibbelig vor Aufregung starrte Thomas auf das Display der Digitalwaage. 7980 Gramm! Ein Wahnsinnswert. Der Aufbau war derart kompromisslos, dass Thomas sogar auf einen Flaschenhalter verzichtet hatte.

„Ich hydriere mich vor jeder Tour ordentlich auf“, sagt er. Sein wichtigstes Grundnahrungsmittel ist eh der Fahrtwind. Und den saugt Thomas auch mit dem neuen Nieten-Bike so gierig ein, wie Zombie Pinhead das Blut seiner Opfer.