Mit heißer Nadel
Dass ausgerechnet der Bikeboom seine Firma Alutech ins Schleudern bringen könnte, hätte Jürgen Schlender nie gedacht. Jetzt schweißt er wieder selbst, statt vergeblich auf Fernostlieferungen zu warten. Die perfekte Adresse also für unser Made-In-Europe-Projekt.
Text und Fotos: Henri Lesewitz
Wenigem wird derartiges Gottvertrauen geschenkt wie den Ansagen von Navigationssystemen. Doch in diesem Fall kann es sich nur um eine spektakuläre Fehlleitung handeln. Das hier soll die legendäre Mountainbike-Schmiede Alutech sein? Die Firma, die gerade für mediale Aufmerksamkeit sorgte, weil sie nach Jahren der Fernostfertigung, zermürbt vom Lieferketten-Desaster, wieder auf lokale Herstellung setzt? Was von nicht wenigen Branchen-Insidern als mögliches Zukunftsmodell der gesamten Fahrradindustrie gesehen wird und uns auf die Idee für unser Projekt brachte: Schaffen wir es, ein Made-in-Europe-Bike auf die Räder zu stellen? Jetzt sofort?
Das Navi hat das Erreichen der Zieladresse verkündet. Dass es kein grauer, seelenloser Industrieklotz mit Ringstraßenanbindung ist, weiß man als Szene-Insider. Doch das hier sieht aus, als hätte es jemand unter dem Einfluss blutdrucksenkender Kräutertees konzipiert. Ein rotes Backsteinhaus. Kieszufahrt. Verhätschelter Garten. Das Zwitschern der Vögel wirkt inmitten dieser Idylle fast aufgekratzt. Und da kommt er auch schon breit grinsend aus dem Rolltor geschritten. Jürgen Schlender, der Boss.
„Erst mal Frühstück?“, fragt er und schiebt seine berühmte, schwarze Wollmütze nach hinten, dass sie im Nacken hängt wie bei Papa Schlumpf. Der Weg in den zweiten Stock, in dem sich die Wohnung befindet, führt durch die Firmenräume. Schweißerei, Montagewerkstatt, Büro. Geordnetes Chaos. Alles maximal kompakt. An Wänden und in Vitrinen Zeugnisse der Firmengeschichte. Der brutalistische Hardcore-Rahmen Wildsau, mit dem in den Neunzigern alles begann. Die Startnummern, die von Schlenders jahrzehntelanger Race-Leidenschaft erzählen. Getrieberahmen, Prototypen, Fotos. Ein richtiges, kleines Museum. Alutech feiert dieses Jahr 30. Jubiläum. Doch so richtig in Partystimmung ist Schlender nicht. Im Gegenteil. Die Branche spielt verrückt. Trotz Bike-Boom plagen Schlender Sorgen. Es ist alles kompliziert geworden.
Reporterfrage: Was ist passiert, dass Du Deine Rahmen nicht mehr in Fernost fertigen lässt, sondern wieder selbst schweißt?
Jürgen: Wir hatten keine Wahl. Es ging um die Existenz. Durch die Pandemie sind die Lieferketten komplett zusammengebrochen. Die Werke in Fernost waren lange zu. Und als sie wieder öffneten, wurden erst mal die Großen bedient. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob du beispielsweise Specialized bist, oder Alutech.
Was genau war das Problem?
Das fing bei den Rohren an. Wir verwenden Hydroform-Rohre, die nach unseren Vorgaben angefertigt werden. Alleine für ein Unterrohr sind acht Werkzeuge nötig, damit es ausgepresst werden kann. Vor der Pandemie betrug die Wartezeit für Rohre 60 Tage. Dann wurde der Rahmen geschweißt und von Taiwan nach Deutschland geschickt. Plötzlich mussten wir eineinhalb Jahre auf die bestellten Rohre warten. Rohre für 750 Rahmen! Als mir unser Schweißer dann erklärte, dass ich in etwa einem weiteren Jahr mit den Rahmen rechnen könne, musste ich die Reißleine ziehen. Das Lager ist voller Teile, was wahnsinnige finanzielle Mittel bindet. Ich kann nicht zwei Jahre auf Rahmen warten. Das kann man als Firma nicht überleben. Deshalb schweißen wir wieder selbst.
Geht es nur um Lieferfähigkeit oder auch um andere Aspekte?
Qualität ist nicht das Thema. Früher war es schwierig, ein spezielles Rohr in Deutschland zu bekommen. Viele Firmen waren als Zulieferer der Automobilbranche verwöhnt. Da ging es erst bei hohen Stückzahlen los. In Taiwan konnte man 50 Rohre bestellen. Dort gilt: Viel Kleinvieh macht auch einen großen Misthaufen. Die Firmen haben Knowhow. Die Qualität ist top. Das Problem ist die Lieferfähigkeit. Deshalb versuchen wir künftig, voll auf Europa zu setzen.
Du willst den Rahmen für unser Project Europe fertigen. Ist ein 100-prozentiges Europa-Mountainbike realistisch?
Nein. Im Moment nicht, zumindest nicht zu vertretbaren Kosten. Schon das Roh-Alu kommt üblicherweise aus China. Auch die Rohlinge für die Frästeile, die mit teuren Werkzeugen geschmiedet werden, kommen aus Fernost. Selbst, wenn man es schafft, den Rahmen 100 Prozent Made in Europe zu bauen, wird man bei den Anbauteilen vor der nächsten großen Herausforderung stehen. Ich glaube aber, dass da in naher Zukunft viel passieren wird. Es kann nicht sein, dass wir nur die verlängerte Werkbank Chinas sind.
Schlender klopft sich die Krümel der Frühstückssemmel vom T-Shirt. Dann stapft er die Treppe runter in sein Firmenreich. Ein paar Mitarbeiter wuseln herum. Schlender tauscht ein paar kumpelhafte Sprüche mit ihnen aus und knipst das Licht in der Werkstatt an. Auf der Schweißbank: die provisorisch zusammengebrutzelten Fragmente des BIKE-Project-Europe-Rahmens, Alutechs Bestseller-Modell Fanes. Schlender konnte es nicht abwarten und hat gestern schon losgelegt. Er ist ein Machertyp.
„Wenn ich was geil finde, will ich es sofort umsetzen. Das ist absolut nicht mainstreamig“, lacht er. Was er damit meint, wird keine Minute später klar. Eines der Rohre passt nicht optimal. Schlender schnappt es sich, legt eine aus Pappe geschnittene Schablone an und schneidet das Alu-Teil, ohne groß zu fackeln, mit der elektrischen Handsäge zurecht. Er steckt das Rohr zurück ins Rahmenpuzzle, klopft es mit dem Gummihammer in Position. Fertig.
Er spielt auf seine Zeit in der Modebranche an. Schon als Jugendlicher nähte er sich vor Partyabenden komplette Outfits, weil ihm 08/15 zuwider war. Nach einer Ausbildung zum Schneider arbeitete er für Joop und Jil Sander. Danach verdiente er sein Geld als Autohändler. Seine große Leidenschaft aber war das Biken. Als das Internet gerade in den Kinderschuhen steckte, dachte er über einen Online-Versand für MTB-Teile nach, inspiriert vom gerade an den Start gegangenen Autoportal mobile.de. Er verwarf den Gedanken aber wegen der Ungewissheit, ob sich so was durchsetzen würde, wie er heute seufzend erzählt. Ein Zufall machte ihn zum Besitzer der Schmiede Alutech.
Wie wird man denn als gelernter Schneider Mountainbike-Hersteller?
Verrückte Geschichte. Über Bekannte bekam ich Kontakt zu Andreas Zimmermann, der die Firma Alutech gegründet hatte. Eine CNC-Bude, die vor allem Kleinkram herstellte. Brake-Booster, Kettenführungen, so was. Das eine Fully, das die hatten, wurde bei Nicolai gefertigt. Andreas wollte verkaufen. Da habe ich alles Geld zusammengekratzt und die Firma für einen hohen fünfstelligen Betrag gekauft. Meine Freundin und ich haben das Geld abgegeben und sind direkt weiter in den Urlaub nach Frankreich gefahren. Noch während der Fahrt habe ich Skizzen für ein erstes Fully gemacht.
Muss man da nicht ein Ingenieursstudium haben?
Hatte ich halt nicht. Also habe ich autodidaktisch CAD-Zeichnen gelernt und mir alles selbst beigebracht. Niemand hat uns gezeigt, wie die Branche funktioniert. Wir sind ins kalte Wasser gesprungen und haben schwimmen gelernt. (lacht)
Es ist früher Nachmittag. Höchste Zeit zu packen. Vor ein paar Tagen kam Schlender die Idee, den BIKE-Project-Europe-Rahmen nicht hier in seiner Werkstatt zu schweißen,
HISTORIE ALUTECH
Der Zufall machte aus dem gelernten Modeschneider Jürgen Schlender den Besitzer der Schmiede Alutech. Die Firma wurde 1993 von Andreas Zimmermann gegründet und stand 2001 zum Verkauf. MTB-Enthusiast Schlender griff zu und baute die Marke zur Kultschmiede auf. Firmensitz ist in Aschaffel (Schleswig-Holstein) nahe der Ostseeküste. In den ersten Jahren wurden Alutech-Rahmen noch am Firmensitz geschweißt. Dann wurde die Produktion nach Taiwan ausgelagert. Wegen erheblicher Lieferschwierigkeiten zog Schlender 2021 die Reißleine und schweißt seither alle Rahmen wieder selbst. Die Palette reicht von Gravel bis Downhill. Das erfolgreichste Modell ist das Enduro-Fully Fanes. Der Rahmen des Gravel-Bikes ist aus Carbon und wird als einziges Modell nach wie vor in Fernost gefertigt.