Henri Lesewitz
Feine Texte & Fotos

Luggi's große Liebe

Mehr Rad fahren, weniger Müll, und so die Welt retten? Da kann Ludwig Ritzer, genannt Luggi, nur mild schmunzeln.Mit seinem 1992er-Klein-Attitude durchbrach der 65-Jährige gerade die 100.000-Kilometer-Schallmauer. Mit Öko-Rebellismus hatte das allerdings eher wenig zu tun.

Text und Fotos: Henri Lesewitz


Es ist nur der Hauseingang. Doch es ist, als wäre Ludwig Ritzer aus den dunklen Tiefen des Vorvorgestern ins Jetzt gesprungen. Aus den schrillen Neunzigern, der verwegensten Epoche des Mountainbike-Sports. Besonders, was die Mode betrifft.

Kurze Irritation beim Reporter. Ist das jetzt Fasching? Oder ist das echt? Das lila-pinke Klein-Trikot mit den Gewitterblitzen wäre allein schon ein Symbol für das Ausreizen modischer Grenzen. Dass das Trikot in die schwarze Lycra-Hose gestopft ist und die Träger wie Borats Badehose über den Schultern spannen, lässt zwei Möglichkeiten offen: Entweder ist das Ganze eine Persiflage auf den Look der Neunziger, wo ein solcher Anziehstil tatsächlich verbreitet war. Oder aber, Ludwig Ritzer ignoriert Moden und Zeitenlauf tatsächlich so konsequent, wie es der Anlass dieses Treffens vermuten lässt. Vor Kurzem nämlich hat er mit seinem 1992er-Klein-Attitude die 100.000-Kilometer-Schallmauer durchbrochen. Eine Hammer-Story! Witzige Verkleidung, oder des Kilometerjägers üblicher Style? Schwer zu sagen.


„Ich habe schon ’was vorbereitet. Mir nach“, sagt Ludwig Ritzer, 65, den man ruhig Luggi nennen dürfe, und führt zum Gartentisch hinterm Haus. Unverbauter Blick auf die Ammergauer Alpen. Bienensummen. Hühnergackern. Auf dem Tisch steht ein Guglhupf. Gattin Gaby hat ihn gebacken. Das Klein ist liebevoll vor dem Schuppen geparkt. Idylle in Vollendung.

„Was magst Du trinken? Weißbier?“, fragt Luggi, dessen Genießerbauch die Nähte des Trikots sichtlich auf die Probe stellt. Das Teil ist aus demselben Jahr, in dem das Klein Attitude Einzug in sein Leben hielt. Die Gattin habe es vor Jahren aussortiert, zur Feier des Tages aber noch mal vom Dachboden geholt, schmunzelt Luggi. Vor ihm liegen zwei Fotoalben parat. Das eine ist mit „29“ beschriftet. Das andere mit „31“. Treffsicher, als hätte er extra dafür trainiert, schlägt Luggi Album Nummer 29 mit einer einzigen, schwungvollen Bewegung genau auf der Seite auf, auf der das Foto vom Tag null eingeklebt ist.

Foto: Privatarchiv Ludwig Ritzer


„Da hatte ich den Rahmen gerade von Radl Bimbo in Rott am Lech abgeholt. Ich war monatelang immer wieder im Laden gewesen, um ihn anzugucken. Irgendwann musste ich ihn haben“, lässt Luggi die Flammen der Erinnerung knistern. Das Bild, laut Albumnotiz am 7.12.1995 aufgenommen, zeigt ihn in der Werkstatt. Er posiert auf seinem damaligen Klein Pinnacle, dem preisgünstigsten Modell der US-Kultschmiede. Das brandneue, soeben erworbene Edelmodell Attitude hält er stolz geschultert in die Kamera.

Er sei zu der Zeit eher ein Bergsteiger gewesen, der mit dem Mountainbike seinen Aktionsradius ausgeweitet habe, plaudert Luggi. Das Attitude aber habe alles verändert. 100.000 Kilometer. Luggi kann es selbst kaum fassen.

Wer die Wucht verstehen will, mit der die MTB-Lust in Luggis Leben knallte, muss die Zeit damals miterlebt haben. Rednex mit Cotton Eye Joe auf Platz eins der Charts. Helmut Kohl Bundeskanzler. „Diätenanpassung“ offizielles Unwort des Jahres. Überall Fetzenjeans, Großraumdiskotheken, Arschgeweihe, tie­fer gelegte Kleinkraftwagen, Kunstpalmen-Deko. Und wie ein Parallelkosmos, nahezu unbemerkt vom Mainstream, die neue, faszinierende Welt des Mountainbikens. Ein Trendsport cool wie BMX und Surfen. Und gleichzeitig ein Öko-Bekenntnis. Die perfekte Symbiose von Mensch, Natur und Technik. Die Schmieden im MTB-Geburtsland USA pumpten unermüdlich neues Material in den Markt.

Superstar dieser Marken war die Alu-Manufaktur von Gary Klein aus einem kleinen Kaff zwischen Portland und Seattle. Speziell das Modell Attitude hob sich mit einer unfassbaren Innovationsdichte von allen anderen Bikes am Markt ab. Die Rohre waren extravoluminös und gleichzeitig hauchdünn wie Cola-Dosen, was das Bike auf magische Art gleichzeitig steif und leicht machte. Die massiv dimensionierten Steuerlager waren – wie auch das Innenlager – eingepresst. Das Cockpit war als Lenker-Vorbau-Einheit konstruiert. Alle Züge verliefen durch den Rahmen. Ein Wunderwerk der Technik, in manchen Details seiner Zeit Jahrzehnte voraus. Vor allem aber betörte das Attitude mit seinen knallbunten Verlauf­lackierungen, die Namen wie Cocktails trugen: Sunrise, Backfire oder Candy Blue. Ein amerikanisches Magazin kürte das Klein Attitude vor Jahren zum schönsten Mountainbike aller Zeiten.

„Ich weiß gar nicht, was mich am meisten fasziniert hat. Ich glaube, die Farbe“, sagt Luggi. Horizon Linear Fade heißt die Lackierung. Ein Blau-Pink-Mix, der die Stimmung eines Sonnenaufgangs stilisiert. Es ist das 92er-Modell mit einer nachgerüsteten Rockshox Mag 21, die im Gegensatz zu ab Werk verbauten Gabeln nicht in Rahmenfarbe lackiert ist. Die Crew von Radl Bimbo hatte sie als verkaufsfördernde Maßnahme montiert, nachdem der Rahmen drei Jahre lang im Laden gehangen hatte. Offenbar wegen der starren Originalgabel.


Luggi greift nach dem Schulheft, das neben den Fotoalben bereitliegt. „Bike-Heft“ steht in sauberen Druckbuchstaben drauf geschrieben, den Umschlag zieren zwei Schimpansen-Babys. Das Heft sieht alt und abgegriffenen aus. Es ist die vollständige, lückenlose Dokumentation seines Mountainbiker-Lebens. Die Jungfernfahrt mit dem Attitude, so ist darin notiert, fand am 27. Januar 1996 statt.

„Das war nur die Probefahrt“, erklärt Luggi: „Aber ab dem Tag war ich radlnarrisch.“

Mit glühenden Worten beginnt er die Geschichte von sich und dem Attitude zu erzählen. Der Zeigefinger huscht über die Tabellen im „Bike-Heft“. Kilometer, Datum, Ort. Die Fotoalben liefern die Bilder dazu. 21.4.1996: 1000 Kilometer, Ortschaft Wies. 20.6.1996: 3000 Kilometer, Köpfinger Wiesen. 3.4.1997: 9000 Kilometer, oberhalb Steirer. 24.9.1997: 15.000 Kilometer, Peiting beim Gruber.

 Luggi, damals Monteur im Hochspannungsleitungsbau, fuhr fast täglich. Wochentags die 40 Kilometer zur Arbeit. Am Wochenende ausschweifende Touren in den Bergen. Jeder volle Tausender wurde notiert. Luggi wollte den Überblick behalten. Der nur dreistellig zählende Bike-Computer sprang nämlich alle 999,99 Kilometer wieder auf Null. Luggi fuhr, notierte die gesammelten Kilometer und war glücklich. Es gab keinen Grund, sich für ein neues Bike zu interessieren. Am 29. November 2000, nach 39.000 Kilometern, der Schock. Unter der Dauerlast von Luggis Tritten hatte sich das Einpresslager gelöst und dabei das Tretlagergehäuse geweitet.


 „Die Leute von Radl Bimbo meinten, den Rahmen könne ich wegschmeißen“, erzählt Luggi. Er habe überlegt, wenigstens ein Mobile für die Werkstatt draus zu bauen. So ein Deckengehänge, wie es Leute, die Klimbim mögen, gerne zu dekorativen Zwecken in ihre Wohnungen hängen. Doch er habe es nicht übers Herz gebracht, das Attitude zu zersägen. Nach vier Jahren startete Luggi einen letzten Reparaturversuch.

Der Eintrag im „Bike-Buch“ dokumentiert die erfolgreiche Reaktivierung: 10.3.2004, B23 bei Straußbergkurve.

 

 In die Mountainbike-Welt von Luggi war die Glückseligkeit zurückgekehrt. Er fuhr, notierte die vollen Tausender, wechselte verschlissene Reifen, Felgen und Ketten – und fuhr die nächsten Tausender im Dutzend. Dass sich die Mountainbike-Welt um ihn herum mit blitzartiger Geschwindigkeit

änderte, nahm er wahr. Aber es juckte ihn nicht die Bohne. Der Siegeszug der Scheibenbremse. Carbon-Hype. Fully-Boom. Zum Teufel damit!

 

 Eintrag im „Bike-Buch“: 20.9.2006, 50.000 Kilometer, Prien am Chiemsee.

Niemand trug mehr psychedelisches Kunterbunt, keiner mehr die Lycra-Hose über dem Trikot. Free­riden war das neue, große Ding. Die einst so strahlende Marke Klein, vom Trek-Konzern geschluckt und kaputtgespart, interessierte kaum noch einen. Im elitären Kreis der Klassikersammler allerdings avancierte das Klein Attitude zum Kultobjekt. Die Huldigung des einstigen Super-MTBs nahm fast schon religiöse Züge an. Bei vielen gilt es bis heute als Frevel, mit einem Klein Attitude zu fahren. Zu groß ist die Angst vor Lackschäden. Etwa durch die Sonne, die als Todfeind des UV-empfindlichen Neonlacks gilt. Weswegen viele Kleins ein ereignisloses Dasein in lichtgeschützten Hobbyräumen fristen. Das von Kilometern gezeichnete Attitude von Luggi wirkt wie die blanke Verhöhnung des Sammelfetischismus. Kratzer, Ausbleichungen und Lackbläschen überziehen den Rahmen wie Narben.

 


„Ein Bike ist zum Fahren da, nicht zum Angucken“, lacht Luggi, dass der Bauch vor Vergnügen bebt und die Trikotnähte ächzen.

Es dürfte nicht viele Biker geben, die in ihrem Leben 100.000 Kilometer abspulen. Und noch weniger, die das mit ein und demselben Bike tun. Man könnte Luggi als Öko-Rebellen feiern, zumal in dieser Zeit der Nachhaltigkeitsdebatten. Als einen, der allen Trend-Orkanen die kalte Schulter zeigt und mit ökologisch korrekter Sportausübung das Klima rettet. Twentynine? 1x12-Schaltung? Steckachsen? Wozu, wenn das Attitude doch klaglos seinen Dienst tut? Ressourcen-Schonung durch lange Produktnutzung lautet ein Kernaspekt der Grünen Welle, die derzeit über den Globus fegt. Das 100.000-Kilometer-Attitude wäre das perfekte Symbol dafür. Die nüchterne Wahrheit ist: Luggi ist kein Öko-Held. Er liebt einfach nur dieses Bike und spult gerne damit Kilometer ab. Weiter nichts.

Der 29. Juni 2021 war ein regnerischer, kühler Tag. Ein Vierteljahrhundert war seit dem Kauf des Klein vergangen. Der Tachostand war mal wieder nah an der 999,99-Kilometer-Marke. Doch diesmal war der Moment feierlicher. Es war das unmittelbar bevorstehende hundertste Umspringen auf Null. 100.000 Kilometer! Zweieinhalb mal um die Welt. Ein Spitzenereignis.


Luggi packte eine Schluckflasche und seine Spiegelreflex-Kamera in den Rucksack, zog seine gelbe Regenjacke an und kurbelte los.

100.000 Kilometer, Oberreithen, Kapelle. So ist der Moment im „Bike-Buch“ kurz und knapp verewigt. Und jetzt? Luggi versteht die Frage nicht. Natürlich weiterfahren. Was denn sonst? Im 1992er-Katalog warb Gary Klein mit einer Ein-Million-Meilen-Garantie, was etwa 1,6 Millionen Kilometern entspricht. Es zeigt, in welchen Dimensionen damals gedacht wurde. Und so betrachtet ist Luggis Attitude ja gerade einmal eingefahren.